Justiz-Drama mit bitterem Beigeschmack. Prima Facie von Suzie Miller im Schauspielhaus Graz. Passend zum internationalen Kampftag der Frauen setzte auch das Schauspielhaus Graz das viel gespielte Ein-Frau-Stück der australischen Autorin und Juristin Suzie Miller auf den Spielplan.

von Lydia Bißmann

Unter der behutsamen Regie von Anne Bader legt Anna Rausch nicht nur eine quantitative Meisterleistung hin. Fast 100 Minuten bestreitet die Schauspielerin im erzählenden Monolog das Stück quasi im Alleingang. Unterstützung bekommt sie dabei von Otiti Engelhard und Luise Schwab, die als Supporting Actress fungieren und den inneren Konflikt der Hauptfigur Tessa zum Ende des Stückes hin greifbarer machen. Die Dreier-Konstellation spielt auf die Statistik an, dass fast jede dritte Frau von sexueller Übergriffen betroffen ist. Die Wandlung von der selbstbewussten, erfolgsverwöhnten Nachwuchs-Strafverteidigerin zur Klägerin, die genau weiß, gegen wen sie kämpft und dass der Kampf nicht zu gewinnen ist, ist eine Klasse für sich. Anna Rausch gekonnter Wechsel zwischen der ehrgeizigen, erfolgsverwöhnten Strafverteidigerin, zum verletzten, verstörten Wesen sorgt für Gänsehaut und Spannung, obwohl das Ende von der ersten Szene an ganz klar vor Augen liegt. “Prima Facie “ ist der juristische Ausdruck für Anscheinsbeweis und das sorgt schon vor dem Besuch des Theatersaals für einen Spoiler. Wenn eine Frau dann noch so selbstbewusst und selbstsicher in Talar und Perücke erscheint, kann sie nur fallen. Das wäre vielleicht auch bei einem männlichen Helden so, nur dass bei Frauen die Fallrichtung immer dieselbe ist. Noch dazu, wenn es sich dabei um eine Aufsteigerin im britischen Klassensystem handelt.

Beklemmendes Understatement auf der Bühne

Eine großzügige Treppe samt Hintergrund aus elegantem, cognacfarbenem Holzfurnier (Hannah von Eiff) sorgt für Seriosität und vermittelt die Atmosphäre von Gerichtsräumen, in denen Tessa im Alltag ihrer Arbeit nachgeht. Gelegentlich durchbricht der Blick auf einen Vernehmungsraum in viel zu hellem Weiß die Szene. Unterlegt werden die (ver)störenden Sequenzen dabei von dramatischen Technobeats (Matthias Schubert), die das Unheil ankündigen und manifestieren. Anna Rausch als Tessa erzählt ihre Geschichte genau und ohne störendes Beiwerk. Die exakt und akkurat geschilderten Gefühle bleiben dennoch sachlich, es ist mehr die Körpersprache und Mimik der Schauspielerin, die ihre Entwicklung illustriert und für Unwohlsein beim Zusehen sorgt. Die Darstellerinnen erobern auch den Publikumsraum für sich, das eingeschaltete Saallicht vermittelt den Eindruck, als würde man tatsächlich einer Verhandlung beiwohnen.

Toxisches System ohne Ausweg

Tessa war nie eine Täterin, hat einfach ein System mitgetragen, von dem sie überzeugt war und das Spiel des Erfolgs genossen. Dass sie viele Sexualstraftäter verteidigt, hat sich aus Zufall so ergeben. Trotzdem ertappt man sich beim Zusehen immer bei den Gedanken, was die junge Frau anders, besser, oder nicht tun hätte können. Nicht nur in der Situation, in der sie die Gewalt erlebt hat, sondern auch schon viel vorher. Das ist unangenehm und beschämend, aber es gibt kein Entrinnen. Ihr Peiniger bekommt wenig Raum zur Interpretation, was die Sache noch unheimlicher macht. Wie so viele Täter, stammt er aus Tessas direktem Umfeld, ist sogar ein Mann, in den sie sich ein wenig verguckt hat. Er ist ebenfalls Strafverteidiger, kommt noch dazu aus einer gut situierten Upper-Class-Familie. Dass es ein Kampf gegen Windmühlen wird, weiß Tessa, trotzdem nimmt sie ihn auf und zeigt ihren Peiniger an. 

Nicht ohne Grund wird Prima Facie seit dem Erscheinen 2022 auf allen Bühnen auf und ab gespielt. Suzie Millers Text kommt ohne Spielereien und allzu viel biografische Hinweise aus, die Hauptfigur ist zugänglich und unkompliziert zu erfassen. Das konzentrierte Spiel von Anna Rausch, unter der behutsamen, aber kraftvollen Inszenierung von Anna Bader und ihrem Team, hauchen der Allerweltsfigur Tessa, der jungen Karrieristin Leben und Tragik ein, geben dem Stück Körper und Tiefgang und machen es zur Kunst. Dafür gab es dann auch wohlverdiente Standing Ovations und ungewohnt langen Applaus.

(Bildnachweis/Credits: Lex Karelly)

 

KRONEN ZEITUNG // 10. März 2024

Plötzlich gerät eine Anwältin in ihr eigenes Kreuzverhör

Schauspielhaus Graz: Der globale Bühnenhit „Prima Facie“ erzählt von einer Anwältin, die erfolgreich Männer verteidigt, denen Sexualstraftaten vorgeworfen werden. Doch eines Tages wird sie selbst zum Opfer. 

von Christoph Hartner

Tessa Ensler hat es geschafft. Aus einfachen Verhältnissen hat sich die smarte und ehrgeizige Frau nach oben gearbeitet: Klassenbeste in der Schule, Jus-Studium an einer briti- schen Elite-Uni, toller Job in einer renommierten An- waltskanzlei in London. Dort erarbeitet sie sich schnell eine Reputation, weil sie Männer verteidigt, die wegen Sexualstraftaten vor Gericht stehen. Ihr Ta- lent: Akribisch bereitet sie sich vor, klammert sich an das Gesetz und legt Wider- sprüche in den Aussagen der Anklägerinnen und Ermitt- lungsfehler der Polizei und Staatsanwaltschaft frei. Und weil es eben „im Zweifel für den Angeklagten“ heißt und Tessa weiß, wie sie Zweifel sät, ist sie außerordentlich erfolgreich. 

Doch dann wird Tessa selbst zum Opfer und muss erkennen: Im Falle von Ver- gewaltigung gibt es kein „ordnungsgemäßes Verfah- ren“ – ein solches Erlebnis ist so außerordentlich wie ihr Talent. Aber dieses hilft ihr als Opfer nicht mehr: Sie macht nach der Tat, beim Verhör auf der Polizei- station und vor Gericht die gleichen Fehler, wie all die Frauen, denen sie einst im Kreuzverhör begegnet ist. 

Mit „Prima Facie“ hat die australische Autorin Suzie Miller ein Stück ge- schrieben, das spätestens seit seinem Debüt am Lon- doner West End im Jahr 2022 mit TV-Star Jodie Comer zu einem internatio- 

nalen Phänomen geworden ist. Das Stück erzählt näm- lich nicht nur die Entwick- lung einer Frau von der Ver- teidigerin der Täter hin zum Opfer, sondern stellt auch viel größere Fragen: Kann man ein so intimes Verbre- chen wie eine Vergewalti- gung überhaupt mit den Mitteln der Rechtsordnung behandeln? Ist das Justiz- system der richtige Ort für die Aufarbeitung einer solchen Tat? Kann Recht für Gerechtigkeit sorgen? 

Anne Bader inszeniert den fesselnden Theatermonolog in Graz nicht als reine One- Woman-Show, wie das die meisten Inszenierungen bisher gemacht haben. Mit der grandiosen Anna Rausch, die Tessa als eine Frau spielt, die an ihrem eigenen Ehrgeiz und ihrem blinden Vertrauen an die Macht der gesetzlichen Ordnung scheitert, stellt Bader an- fänglich zwar eine einzelne Schauspielerin ins Zentrum. Doch ab dem Zeitpunkt, wo Tessa zum Opfer wird, steht sie in dreifacher Ausführung (Otti Engelhardt und Luisa Schwab) auf der Bühne von Hannah von Eiff. 

Dieser Kniff sorgt nicht nur dramaturgisch für spannende Momente, sondern ist vor allem auch schlüssig: Eine von drei Frauen wird aktuellen Studien zufolge im Laufe ihres Lebens zum Opfer von sexualisierter Ge- walt: „Sehen Sie nach links, sehen Sie nach rechts, eine von uns“, sagt Tessa an einem Punkt im Stück. Was hier erzählt wird, ist kein trauriger Einzelfall – es hat leider System. Und das Justizsystem hat darauf – so scheint es – nicht die richtigen Antworten. 

 

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MINNA VON BARNHELM

Anne Rieckhof (Franziska); Philipp Weigand (Just); Thorsten Köhler (Major von Tellheim); Lisa Schwindling (Minna); Ali Berber (Paul Werner)

Baders Inszenierung mag, zumindest anfangs, manchen visuell frustriert haben, denn hier tobt zunächst alles andere als eine Ausstattungsorgie. Auch an den (zwischen nüchtern, pastellig, knallig und symbolhaft changierenden) Kostümen von Luisa Wandschneider schieden sich die Geister. Statt in einem kommoden Wirtshaus versucht Minna ihren ehrverblendeten Verlobten Tellheim hier in einem nüchternen, abstrakt unmöblierten Bunker (Bühnenbild: Sylvia Rieger) zur Räson zu bringen. Ein höchst ungastlicher Herbergsraum, der in seiner Reflexion seelischer Verödung zugleich Szenerie für ein geradezu boulevardeskes Treiben wird: Tür auf, Tür zu, hohes Tempo – hier geht’s zu wie im Taubenschlag. Alles konzentriert sich auf die Sprache und die Figuren. Was dadurch mit Lessings Wortkunst passiert, ist wunderbar: Sie tritt wuchtig und lebendig in den Vordergrund und wirkt so funkelnd heutig, dass manche wähnten, Bader habe den Text gar umgeschrieben statt nur gekürzt. Nein, das ist original Lessing. Auch Minnas Frage „Was ist das? Will das zu uns?“ – hier auf den im Gala-Glitzerjäckchen wahrlich fragwürdig aussehenden Chevalier Riccaut de la Marlinière (Bernd Geiling) gemünzt und als Chargen-Gag belacht.

 

 

Münster, 28. April 2018. Alle Blicke richten sich auf die Dame mittleren Alters, die ganz alleine mitten auf der großen Bühne steht. Sie will sich scheiden lassen, endlich soll Schluss sein mit einem Leben, in dem sich alles wie gedämpft anfühlt, das ohne Liebe und damit ohne jedes Gefühl ist. Mit jeder weiteren Frage, die ihr die übrigen neun Ensemblemitglieder aus dem Zuschauerraum heraus stellen, gibt die von Carola von Seckendorff gespielte Noch-Ehefrau mehr von ihrem emotionalen Elend preis. Auf jede der mal ungläubig und mal mitfühlend, mal herablassend und mal desinteressiert klingenden Fragen antwortet sie in dem gleichen apathischen Tonfall. Ihrer leidenschaftslosen Ehe mag sie entkommen, obwohl auch das nicht wirklich sicher ist. Ihrem trostlosen Leben wird sie nicht entrinnen.

Szenen des Scheiterns

„La Divorce / Bergman“, der ersten Szene von Joël Pommerats 20-teiligen Bühnenreigen „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“, deutet schon die Doppelstrategie des französischen Erfolgsdramatikers und Theatermachers an. Triviales vermischt sich ständig mit Tiefgründigem, Absurdes mit Tragischem. Pommerats skizzenhafte Miniaturen wollen immer beides sein, Boulevard und Bergman, und fallen damit ein ums andere Mal zwischen alle Stühle.

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Verschrobene Gestalten auf Liebessuche im Gemeindesaal © Oliver Berg

Es ist also nur konsequent, dass Anne Bader in ihrer Inszenierung dieses doch eher überambitionierten Konglomerats von meist scheiternden Liebesszenen sich nicht vor dem schwedischen Regisseur verbeugt und auch auf allzu boulevardeske Komik verzichtet. Bei ihr ist alles Spiel, vor allem die Liebe. Schließlich berauschen sich Liebende gerne an großen, pathetischen Gesten und wirken dabei doch nur wie Clowns, die um die Vergeblichkeit ihres Treibens wissen.

Melancholische Komik

Carola von Seckendorffs Lamento über ein Leben ohne Liebe wird in Sylvia Riegers ausgesucht trister Gemeindesaal-Kulisse, die an Anna Viebrocks Bühnenbilder für Christoph Marthaler erinnert, zu einer Art Shownummer. Sie inszeniert sich selbst vor den anderen, deren nachbohrende Fragen ihr durchaus willkommen sind. So verliert diese Szene ihre letztlich nur behauptete existentialistische Schwere. Sie weicht einer melancholischen Komik, die das Dramatische leicht und das Lächerliche ernst nimmt. Dementsprechend stecken Sandra Bezler und Andrea Spicher als lesbisches Liebespaar, das in der nächsten Szene auf ein blutiges Beziehungsdrama zutreibt, in Hasenkostümen. Andrea Spichers Forderung nach dem „Teil von mir, das in dir ist“, wirkt eher absurd als bedrohlich.

Anne Bader nimmt Pommerats Figuren das Pathologische und bringt sie einem so deutlich näher. Aus Verrückten werden verschrobene Gestalten, deren pathetisches Auftreten etwas Rührendes hat. Gleich darauf spielen Joachim Foerster und Christian Bo Salle die Szene in einem enormen Tempo noch einmal durch, nur um sich am Ende leidenschaftlich zu küssen. Was wäre die Liebe ohne ein wenig Drama?

Überraschende Schärfe

Während Pommerat seine Szenen einfach aneinanderreiht, sucht Anne Bader nach Verknüpfungen. Die einzelnen Episoden gleiten nicht nur elegant ineinander über. Sie bekommen durch das Gemeindesaal-Setting auch einen gemeinsamen Raum. Ilja Harjes verwandelt sich vom verlassenen Bräutigam in einen E-Gitarre spielenden Alleinunterhalter, der mit Songs wie „Love Me Tender“, „Perfect Day“ und „Wicked Game“ das Geschehen kommentiert. So folgt auf seine Version von Chris Isaaks Song natürlich Pommerats Hommage an Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“.

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Sandra Bezler, Gerhard Mohr, Regine Andratschke © OliverBerg

Ein von Gerhard Mohr und Regine Andratschke verkörpertes Paar spielt mit Sandra Betzlers Babysitterin ein wahrhaft böses Spiel. Sie werfen der finanziell von ihnen abhängigen Frau vor, dass sie ihnen ihre Kinder gestohlen hätte, obwohl die beiden nie Kinder hatten. Pommerats an sich ziemlich selbstgefällige Meta-Spielerei bekommt plötzlich eine überraschende Schärfe. Bader und ihrem Ensemble gelingt dabei eine bemerkenswerte Gratwanderung. Auf der einen Seite entlarven sie gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse, auf der anderen zeigen sie Verzweifelte, die, wollen sie nicht endgültig in der großen Leere ihrer Existenz versinken, mit ihrem bösen Spiel nicht aufhören können.

Großes Vergnügen

Pommerats Szenen sind in der Mehrzahl kalkuliert und damit zynisch. Aber zugleich sind sie Werke eines absoluten Theaterprofis, der genau weiß, wie er Schauspielerinnen und Schauspielern zu großen Auftritten verhelfen kann. Und genau das macht sich Anne Bader zu Nutze. Ihre ganz und gar unzynische Inszenierung eröffnet ihrem Ensemble sogar noch einen größeren Spielraum. Die clowneske Melancholie der Szenen des Abends setzt eine ungeheuere Spielfreude frei.

Es ist ein Vergnügen der von Sandra Bezler gespielten Braut, die erfahren muss, dass ihr Zukünftiger mit all ihren vier Schwestern geflirtet hat, zuzusehen, wie sie ihre Hochzeitstorte nach und nach zerstört. Mit jedem Stück, das sie nimmt und doch nicht zu Ende isst, befreit sie sich etwas mehr aus ihrer misslichen Lage. Nicht sie ist lächerlich, sondern die Konventionen, denen sie sich bisher unterworfen hatte. Liebe mag eine Täuschung sein, wie es der Arzt behauptet, der eine behinderte Frau dazu bringen will, ihr Kind abzutreiben. Doch gerade diese von Andrea Spicher grandios verkörperte junge Frau gibt einem Hoffnung. Ihr durch nichts zu brechender Glaube an eine alle Widrigkeiten überwindende Liebe ist ansteckend.

 

TEXTIL-TRILOGIE:

MAN MUSS DANKBAR SEIN / IHR KÖNNT FROH SEIN / WIR SIND GLÜCKLICH

Nürnberger Zeitung //  16. Oktober 2017

Der dreifache Abstieg. Textil-Trilogie: Man muss dankbar sein / Ihr könnt froh sein / Wir sind glücklich (UA) von Volker Schmidt 

von Wolf Ebersberger

Starker Tobak, attraktiv verpackt: Volker Schmidts nun in Nürnberg vollendete „Textil-Trilogie“ verfolgt das Schicksal dreier Näherinnen. Erst Lohnsklaven, dann Flüchtlinge, bald Nüttchen in Fernost. Das Ganze hat aber einen raffinierten Dreh – und trotz manch krassem Aspekt auch reichlich Wortwitz. Nach der Premiere in den Kammer-spielen gab es starken Beifall.

Bei „Hanni und Nanni“ war die Welt noch in Ordnung. Bei Hanni, Kathy und Liesl steht sie längst Kopf. Da geht es ans Eingemachte. Drei Mädchen ticken nur noch als Rädchen – perfekt eingepasst ins pausenlose Produktionsgefüge der Textilwirtschaft. Jeder Tag ist Werktag, also nicht jammern, sondern tapfer an die Arbeit, Marsch! Muss man nicht schon dankbar sein dafür, dass man lebt? Manchmal kommen den drei bis ins Mark ausgebeutete Fabriknäherinnen Zweifel, ob dies überhaupt noch der Fall ist…

„Man muss dankbar sein“ hat Volker Schmidt den ersten Teil seiner Trilogie genannt, und nicht nur im Titel steckt bitter beißende Ironie. Was der Wiener Autor in seinen Stücken beschreibt, ist in Ländern wie Indien oder Bangladesch akute Wirklichkeit – er aber verhandelt es in Form einer unmerklich in die Zukunft gesetzten Satire: Hier, im guten alten Europa, werden die Arbeiter nun mit Billiglöhnen versklavt, während der asiatische Markt zur führenden Industriemacht angewachsen ist. Die Folgen der Globalisierung – eine Groteske. Und jetzt ist auch noch Besuch aus Fernost da. NGOs, Vertreter von engagierten Nichtregierungsorganisationen, wollen überprüfen, unter welchen Bedingungen die europäischen Kräfte inzwischen eingesetzt sind. Liesl (Lilly Gropper) huscht über die Bühne, in knallgrüner Fantasietracht, mit Glockenrock und blümchengeschmückter Zopfperücke, so, wie es die Firmenleitung will. Gleich geht es los, zirpt sie nervös ins Publikum: „Ich bin nur der Prolog.“ Liesl kommt auch sonst immer als erstes in die Halle, damit sie noch etwas Ruhe hat und den Staub im Licht tanzen sieht. Leise ertönt von hinten ein Walzer, Liesl wiegt sich sanft im Takt, Ihr größter Traum: einmal zum Opernball! Da kann sie nur den in Wien meinen, oder?

Aus dem breiten Schrank im Hintergrund quellen bunt die Klamotten und Stoffe. Schöne neue Welt – für alle, die sich es leisten können. An Ressourcen herrscht noch kein Mangel, an verwertbaren Körpern auch nicht. Liesl ha ja schon schlimmeres hinter sich: den Kinderstrich…

Oh je. Das könnte platt sein, Agitprop – und nur pathetisch hausieren gehen. Aber die junge Regisseurin Anne Bader und ihre Bühnen- und Kostümbildnerin Luisa Wandschneider – schon bei „Und dann kam Mirna“ in der letzten Saison ein Erfolgsteam – nehmen die Vorlage leicht, binden auch drastische Momente ein in eine dralle Melange, die tragikomisch das Gleichgewicht hält, voll szenischer Fantasie und Spielfreude.

Dabei hat jeder der Rollen ihr ganz eigenes Profil. Neben der Mädchenhaft zarten Lilly Gropper gibt Ruth Macke eine kernig-kraftvolle Kathi, deren einzige Schwäche ihr kleiner Sohn ist, für den sie keine Zeit mehr hat. Die Rebellin im Dreierbund ist dagegen Sevetlana Belesova als selbstbewusst kämpferische Hanni: ein markantes neues Gesicht am Haus, nicht nur durch die Glatze der ausdrucksstarken Schauspielerin, die am Anfang in Unterwäsche schläfrig aus dem Schrank purzelt. Ein Geschenk für Nürnberg.

Die Mischung gärt, sobald die drei Mädels gemeinsam den Ausstieg wagen und davonlaufen. „Ihr könnt froh sein“, der zweite Teil, zeigt sie als Elendsflüchtlinge, die vor den Toren der reichen Welt gestrandet sind. Die bewaffnete Hanni hat bereits einen Wächter gekillt, siehe seinen Kopf, aber noch bleibt die Wand zum besseren Leben – wie bei Marlen Haushofer – eine undurchsichtige Hürde.

Es wird dann auch nicht besser: „Wir sind glücklich“, der nun uraufgeführte letzte Teil der Trilogie, führt in rosa Peepshowkabinen, in Prostituion und Putzjob. Neue, noch tiefere Abhängigkeit, immerhin für Liesl eine Art Erfüllung. Luxushure von Ministern – fast wie beim Opernball.

Erst ganz zum Schluss, als epische Bilanz, lässt Volker Schmidt so etwas wie Selbsterkenntnis und das Bewusstsein anklingen, dass alles kausal zusammenhängt, in einer brilliant geschliffenen Sprache zwischen Brecht und Jelinek, witzig und böse. „Das Leben ist kein Schaumbad“, heißt es einmal – man muss stehend duschen.

 

Die Deutsche Bühne // 15. Oktober 2017

Dankbar, froh und glücklich – irgendwie

Natürlich hätte man das dreiteilige Stück im Blick auf das dicke, zumindest dick auftragende Ende mit dem Gleichstellungs-Kick vom „Leiharbeiter“ zum „geliehenen Leben“ oder dem zynischen Werbespot „Angstfrei leben, jetzt günstig möglich“ auch „Parolen-Triptychon“ nennen können. Die geflügelten Titel der zögerlich über zehn Jahre hinweg zusammengewachsenen dreifältigen Story von der Weltwirtschaft im dichterischen Behauptungs-Kopfstand sind ja allesamt Appelle von geradezu religiös inbrünstigem Befehls-Optimismus. „Man muss dankbar sein“ steht über dem ersten Drittel von Volker Schmidts Text, das schon 2007 in Wien Uraufführung hatte. Der dominierende Abgesang, ein Auftragswerk aus (und somit eine eigene Uraufführung für) Nürnberg, bilanziert „Wir sind glücklich“. Dazwischen, in deutscher Erstaufführung immerhin, die stimmungsaufhellende Anordnung „Ihr könnt froh sein“. Dankbar, froh und glücklich! Kann man da beitreten?

Es geht um die Schicksalsgemeinschaft von drei Näherinnen in einer Billiglohnfabrik, und sie hören wunderlicherweise auf halbwegs unexotische Namen wie Liesl, Kathi und Hanni. In der zähnefletschend grinsenden Versuchsanordnung des Autors sind die scheinbar eisernen Zivilisationsregeln von Arm und Reich in Nord und Süd vom Globus überrollt worden. Jetzt ist die wohlstandsspendende Großindustrie in einstige Entwicklungsländer abgewandert und das verarmt zurückgebliebene Europa muss zu Dumpingpreisen in Handarbeit das eigene Überleben improvisieren. Alles wie früher, nur seitenverkehrt. Der willkürliche Gedankensprung, ein zwangsläufig immer etwas stotternder Motor von Volker Schmidts Groteske, geleitet Absurdität durch Dialog-Drehtüren. Die betroffenen West-Frauen fragen sich, ob sie ihre verkümmernde Sehnsucht nach Glück aufgeben, modifizieren oder auf der Flucht nach Süden neu suchen sollen. Buchstäblich an der Nahtstelle zwischen Elend und Traum, eingepasst ins System der mit radikal korrigierten Vorzeichen „durchökonomisierten Welt“, entsteht ihr imaginärer Sitzstreik gegen den hemmungslos weiterrasenden Fortschritt. „Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen unserer Gesellschaft und eurer“, rufen die integrierten Migranten aus Old-Europa ins Auditorium und verlassen dafür die schützende Bühne. Dankbar, froh und glücklich könnten sie auch darüber sein, dass dem Regie-Team um Anne Bader knapp eine Woche vor der Premiere statt des knitternden Bandwurm-Titels aus den drei Aufrufen zu „Man muss…“, Ihr könnt…“ Wir sind…“ der vergleichsweise bügelfreie Begriff „Textil-Trilogie“ einfiel.

Ein vollgestopftes Regal mit Kleidungsstücken, bei denen man nicht drauf schwören möchte, ob gleich der Rotkreuz-Container oder Verona Pooth als Label-Repräsentantin zur weiteren Sachbearbeitung um die Ecke biegt, schmückt die Bühne von Luisa Wandschneider. Drei junge Frauen, mit Zopfperücken und Glockenrock schreckensreich uniformiert, präsentieren sich den angereisten Menschenrechtsprüfern einer NGO-Delegation (das sind wir, das Publikum), um ihre Fabrik von Ausbeutungs-Vorwürfen reinzuwaschen. Es geht ja um Arbeitsplätze. Mindestlohn bekommen die „kleinen Rädchen im Getriebe“ zwar nicht, aber man soll da immer beachten, dass sie „eine ganz andere Kultur haben“ und „dankbar“ sind, oder wenigstens sein sollen, für jede Anstellung. Man kennt das alles, nur eben irgendwie andersrum. Und wenn es der Wahrheitsfindung oder dem sozialen Wohlfühlen dient, wird in diesem Rahmen von früheren Nöten mit Hunger und Vergewaltigung erzählt. „Das war mein Leben“, sagt eine der Näherinnen lächelnd, und macht einen Knicks.

Der zweite Teil des Stückes führt auf einen Kleiderberg, aus dem das Frauen-Trio wie aus dem Meer auftaucht. Von der Flucht direkt ins nächste Chaos. Auf dem Schwarzmarkt ist das Leben wieder nichts wert. Aber dann, nach geradezu demonstrativ langer Umbau-Pause der Aufführung, stehen auf der plötzlich keimfreien Bühne drei Peepshow-Kabinen. Die Frauen machen also Karriere, werden „Luxus-Nutte“ oder wahlweise Hausmädchen mit sehr unterschiedlichen Pflichten. Sogar das deutsche Volkslied für Party-Gäste gehört zum Berufsbild, wohlwollend aufgenommen von der jetzt den Ton angebenden Gesellschaft. Hanni (Svetlana Belesova) war schon daheim aufsässig, hatte in der Fabrik zum Streik gerufen und erhebt sich nun wieder aus der Trägheit ihres übersichtlichen Wohlstands, Liesl und Kathi (Lilly Gropper, Ruth Macke) sortieren ihre abgenutzten Souvenir-Träume neu und wagen den Schritt zur Agitation über die Rampe hinaus. Die drei Schauspielerinnen entwickeln allmählich individuelle Charaktere aus der angezapften Sprachwut und lassen sie wieder fallen, wenn im neuesten, dem zornigsten Drittel die Solidaritäts-Worte wie die Fetzen fliegen. Da kann das Spiel mit der Gesinnung kaum mithalten.

„Zwickt der Tanga oder die Seele?“, lässt Volker Schmidt die Peepshow-Frauen im Moment höchster Melancholie erörtern. Vermutlich waren solche Dummy-Dialoge der Anlass, dem Autor eine Nähe zu Brachial-Poet Werner Schwab anzudichten. Es gibt diese Ähnlichkeit nirgends, denn Schmidts Sprache ist fern von artifizieller Kunst ganz auf die Steigerung und dadurch automatische Demaskierung von schiefen Alltags-Phrasen ins Groteske bedacht. Seine Zuspitzungen sind ein einziger „Nun begreift es doch endlich!“-Aufruf. Regisseurin Anne Bader, die an gleicher Stelle mit teils gleichem Ensemble Sibylle Bergs „Und dann kam Mirna“ mit scharfem Witz inszenierte, kann hier nicht auf Esprit setzen, denn die holzschnittige Trilogie klebt fest an der eigenen Schroffheit, die den Humor nur als Kollateralschaden duldet. „Ihr liebt euer Land nicht, sonst würdet ihr nicht davonlaufen“, wird den drei Frauen vom „Dreckhaufen Europa“ in niederschmetternder Pauschal-Logik vorgeworfen. Die Theaterbesucher haben kein Problem damit, die Spiegelung einer Stückescheiber-Utopie für den aktuellen Gebrauch umzudrehen. Bei der Premiere wirkte der lange Beifall auch wie eine Entkrampfungsübung fürs ständige Kopfnicken während der Vorstellung. (Dieter Stoll)

 

 

DEMUT VOR DEINEN TATEN BABY

Westfälischer Anzeiger // 28. März 2017

Zwangsbeglückung mit gezückter Waffe

von Susanne Romanowski

 

Laura Naumanns DEMUT VOR DEINEN TATEN, BABY am Theater Münster ist schnell, idealistisch und radikal pastellfarben. Regie führt Anne Bader.

[…] Eine riesige, flauschige  Wolke hängt über den feengleichen Darstellerinnen, gekleidet in rosa, flieder und hellgelben Chiffon. Als noch Blumenkronen aus der Wolke fallen, wird klar: Der Extremismus in Naumanns Stück liegt nicht im Terror, sondern in seiner Femininität. Die steht ihm hervorragend. Verkleidet als Damentrios von Destiny’s Child bis zu den drei Engeln für Charlie drohen Bettie, Lore und Mia Discobesuchern und Supermarktkunden mit dem Tod – um sie dann in die beste Version ihres Lebens zu entlassen.

[…] Gerade in diesen Szenen zeigt sich die tolle Besetzung von ihrer besten Seite. Mühelos wechseln Claudia Hübschmann, Andrea Spicher und Linn Sanders von süßen Kulleraugen zu breitbeinigem, maskulinem Maximierungssprech. Die Darstellung der neoliberalen Schlipsträger macht die Karikatur der niedlichen Utopistinnen perfekt. Es ist die große Stärke dieses Stücks, hochpolitische und moralische Überlegungen in so einen kurzweiligen und brüllend komischen Abend einzuflechten. Scheinbar randläufig fließen Kapitalismus- und Sexismuskritik in reine Spielfreude ein. Beispielsweise, wenn Betties kindliches Staunen Lacher provoziert, bevor auffällt, dass die Frauen ganz selbstveständlich geduzt werden und dass ihnen im Paket gleich ein Plattenvertrag angeboten wird – die hübschen Kostüme verkaufen sich schließlich so gut. Wo die Grenzen verlaufen, ist klar: hier der Idealismus, da der Markt. Hier die Utopie, da das System. Hier die Frauen, da die Männer. Diese Gegenüberstellung könnte man dem Abendvorwerfen, wäre nicht allein die Idee der simulierten Terroranschläge und deren perverse Vermarktung schon so grotesk  auf die Spitze getrieben. DEMUT VOR DEINEN TATEN, BABY trifft den Zeitgeist mit Fragen nach Gesellschaft, Geschlecht und Wirtschaft – schwere Kost, die wie auf Wolken daherkommt und leider schon nach einer Stunde weiterzieht.

 

Westfälische Nachrichten // 29. März 2017

Vom Glück des Schreckens

von Helmut Jasny

In einer riesigen Wolke schweben sie auf die Bühne herab. Und mit den wallenden Kleidern könnte man sie wirklich für Engel halten. Dazu würde auch ihr Auftrag passen: Bettie, Mia und Lore wollen die Menschen glücklich machen, indem sie erst Schrecken verbreiten und dann Erlösung bringen. Ein solches Erlebnis hat sie selber zusammengeschweißt, damals bei der Terrorwarnung auf dem Flughafen, als sie hilflos in der Toilette festsaßen. Das Glück, das sie empfanden, als sich herausstellte, dass in dem herrenlosen Koffer keine Bombe war, wollen sie jetzt in die Welt hinaustragen, indem sie ihrerseits Terroranschläge vortäuschen.

Es ist ein interessantes Gedankenspiel, das Laura Neumann in DEMUT VOR DEINEN TATEN, BABY durchexerziert. Das Theater Münster hat das Stück für Zuschauer ab 14 Jahren auf die Bühne des Kleinen Hauses gebracht. Herausgekommen ist eine spritzige, zupackende Aufführung, die nicht nur ein junges Publikum begeistern dürfte. Denn was hier verhandelt wird, ist nichts weniger als die Frage nach dem richtigen Leben.

Regisseurin Anne Bader hat schon in den PRÄSIDENTINNEN gezeigt, dass sie mit Frauenfiguren umgehen kann. Auch hier überzeugen die Darstellerinnen mit einer Präsenz, der man sich nicht entziehen kann. Wenn Linn Sanders die Western-Frau mimt und von ihrem sprechenden Pferd erzählt, hat das genau den verrückten Charme, den die Rolle verlangt. Andrea Spichers Tanz mit dem Bombengürtel wird zur grotesk-komischen Show, und Claudia Hübschmann beweist mit einer Aufzählung aller nur möglichen Versicherungsarten, dass Wortwitz auch ohne nennenswerte Inhalte möglich ist.

Mit den Versicherungen kommt dann ebenfalls der gesellschaftliche Aspekt ins Spiel. Denn die von den Engeln des Terrors beglückte Menschheit denkt nicht mehr an Vorsorge, Arbeit oder Ausbildung, sondern sucht tatsächlich das Leben im Hier und Jetzt. Politiker und Wirtschaftsbosse verlieren an Einfluss und beschließen ihrerseits einen Anschlag, der jetzt den drei Frauen gilt. Auch das ein interessanter Gedanke in einem Stück, das vor guten und gut umgesetzten Ideen nur so strotzt.

 

UND DANN KAM MIRNA

Nürnberger Zeitung // 17.10.2016

Kuck mal, wer da schimpft.

von Wolf Ebersberger

Mütter und Töchter – ein Thema, bei dem es gerne sentimental trieft. Nicht so hier. In Sibylle Bergs satirischem Stück „Und dann kam Minna“, das nun in den Kammerspielen des Nürnberger Staatstheaters seine umjubelte Premiere hatte, wird Tacheles geredet. Ein blitzgescheit-böses Vergnügen, auch für männliche Zuschauer.
Schon bis man Mutter wird – ein einziger Kraftakt! Notfalls muss dann der beste Freund ran, auch wenn der eigentlich schwul ist. Man will ja – seufz! – ohnehin raus aus den „heteronormativen Zusammenhängen“. Oder eben künstliche Befruchtung, der Segen des Fortschritts – mit Händchenhalten der weiblichen Konkurrentinnen, aber in doch eher klammer Sitzhaltung und, wie man deutlich sieht, nicht allzu befriedigend.
Ohne Scheu vor sexuellen Posen stürzen sich die vier famosen Schauspielerinnen ins Fortpflanzungsgetümmel und stellen den jeweiligen Akt pantomimisch nach. Wie Stars bei der „Bambi“- Verleihung sind sie in ihren metallisch glitzernden Kleidchen auf die sonst leere Bühne getreten, aber sie wollen keinen Fernseh-Preis. Sie wollen das Leben – und vielleicht fängt es mit einem Kind ja endlich an! Was tut man nicht alles nach 14 Semestern Kunstgeschichte…
Doch Vorsicht – das hier ist ein Stück von Sibylle Berg, und keine andere Autorin (von Elfriede Jelinek abgesehen, die beiden sind eh geistig verwandt, bis hinein in die Denkstrukturen und rhetorischen Mittel) zieht ihre Figuren mit viel Häme und haarsträubendem Sprachfuror hin und her durch den Kakao des ewigen Scheiterns und der Vergeblichkeit.
„Und dann kam Minna“, so der Titel, ist letztlich eine radikale Abrechnung mit der Generation 30plus – oder allen, die vor lauter Glotzen in ihr Smartphone nicht mehr wissen, wie die Welt aussieht, diese aber unbedingt retten wollen. Kampf den Plastiktüten, Friede der Mülltrennung also! Können wir, so fragen sich Bergs angehende Mütter aber auch, mit einem Kind noch unsere über alles geliebten TV-Serien aus Amerika weitersehen?
Und ja, dann kommt Mirna: Was für ein wunderbarer Moment. Die Hamburger Jungregisseurin Anne Bader und ihre Bühnenbildnerin Luisa Wandschneider öffnen eine Tür im Hintergrund und lassen, während die vier Frauen sich vor Wehen krümmen und brüllen, eine riesige rosa Puppe hineinschieben. Nebel und Licht wie im Horrorfilm, dann der siebte Himmel für Mutter Ruth und ihre drei entzückten Freundinnen.
Ist das lieb, so ein kleiner Mensch! Und was er für Geräusche macht, eiderdaus! Dabei hört der Zuschauer schon ganz genau, was der kritische Säugling im Inneren zu sagen hat – und zwar mit der spitzen Stimme eines Oskar Matzerath aus der „Blechtrommel“. Und mit dessen dämonischer Willensstärke. Man ahnt: Das wird noch lustig – und der Mutter das Lachen bald vergehen.
Anne Bader inszeniert zum ersten Mal in Nürnberg, und hoffentlich nicht zum letzten. Aus Sibylle Bergs an sich wenig dramatischem Stück hat sie ein ungemein wendiges, mitunter zum Schreien witziges Rededuell gemacht, bei dem der Clash der Generationen sehr clever (und argumentativ durchaus fair) geführt wird.
Hier die gutmeinende, aber völlig überforderte Mutter – Ensemble-Rückkehrerin Ruth Macke spielt sie voll Würde und trotziger Energie –, dort die mürrisch-renitente Tochter, die ihrer hilflosen Erzeugerin (wie peinlich!) frühreif die Leviten liest. Nicola Lembach, Karen Dahmen und Neuzugang Lilly Grober greifen jeweils zum Mikrofon, um Mirna zu sein – und brillieren im flott-frivolen Rollenwechsel, den die Regie punktgenau choreographiert hat.
Das Timing stimmt, die gnadenlosen Pointen des Textes werden geschliffen weitergereicht, die Musik macht als Motto auf heiter-melancholisch: eine grandiose Teamleistung! Die angedeutete Handlung – Ruth will aufs Land ziehen und mit den Freundinnen eine Kommune gründen, Mirna protestiert – ist dabei nur der winzige Aufhänger für Bergs weltweiten wie weltwunden Rundumschlag gegen alles politisch Korrekte und persönlich Lächerliche. Vier Frauen, die sich die Faustbälle nur so zuspielen – das erinnert manchmal an Peter Handkes legendäre „Publikumsbeschimpfung“. Auch Berg schimpft im Grunde ja von Anfang bis Ende, auch sie indirekt auf uns, das Publikum.
Dass es ihr durchaus ernst ist mit der Zeitkritik und hinter dem Zynismus oft die reine Verzweiflung steckt, gibt ihrer Tirade Tiefe. Auch das kann man in Nürnberg zum Glück spüren – als Mutter, Tochter oder sonstwas.

 

Die Deutsche Bühne // 15.10.2016

Showtime bei der Frauenpower.

Die Bühne ist leer wie für einen bevorstehenden Schöpfungsakt, aber dann kreisen die Scheinwerfer, der Publikumsjubel wird vom Band zugespielt und vier Frauen – da ist schon auf den ersten Blick der größtmögliche Kontrast zum luftgeblähten Schlabberlook der Berliner Uraufführungs-Produktion fixiert – taumeln in glitzernden Paillettenfummeln hochhackig an die Rampe. Es ist Showtime bei der Frauen-Power, allerdings wird nicht gesungen oder gesprungen, eher nachgetreten. Kann aber auch ganz befreiend sein, wie die eigenwillige Nürnberger Inszenierung von Sibylle Bergs unwiderstehlich giftiger Kolumnen-Dramatik von „Und dann kam Mirna“ zeigt. Unter souveräner Ignorierung des Basis-Experiments „Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen“, wo am Gorki-Theater die Welt der jungen Frauen mit den gehobenen Ansprüchen der Rudel-Emanzipation in Energiestößen von Querschlag-Sarkasmus durchs Scheitern gelotst wurde als wäre es nur ein verpasster Sieg, stürzt sich die junge Regisseurin Anne Bader in Nürnberg direkt auf die Fortsetzung.

Da sind wir nämlich schon weiter. Hier ist die frustrationsanfällige Enddreißigerin im Quartett, wie sie nach dem Kinderkriegen (Alleinerziehend – „Erziehend? Naja, geht so!“) und der Trennung vom Erzeuger-Partner in Spätlese der Freiheit genießt, das zu tun, was sie eigentlich gar nicht will. Oder vielleicht ein bisschen oder das Gegenteil. Beim Wirbel ums aktuell passende Mutter-Bild rufen illusionsfreie Kinder die Gegenreformation aus und wünschen „Spießereltern, die Grün wählen und Alte-Menschen-Sachen machen – meinetwegen auf Facebook“. Mama, der anarchistische Stadtmensch, wollte grade noch aufs Land ziehen, bleibt dank Mirnas Manipulation nun doch in gewohnter Kulisse und könnte alsbald vom nächsten Trend umgedreht werden. Mutterns Wende hat Propellerqualität.
Was Sibylle Berg mit ihren höllisch explosiven Texten wie ein ausuferndes Tisch-Feuerwerk beim Aufräumen nach der Party zündet, wo also Goldregen mit Knallerbsen und Stinkbömbchen zur authentischen Katerstimmung detonieren, lenkt die Nürnberger Inszenierung auf Rollenspiele um. Die Lady- Kracher (durchtrainierte Comedy von Karen Dahmen, Lilly Gropper, Nicola Lembach und Ruth Macke) lassen sich nicht ins Chaos mitreißen, sie demonstrieren die artifizielle Komik der Hilflosigkeit in Profi- Distanz. Augenzwinkern inbegriffen. Die eindeutige Front zwischen den wankenden Frauen und ihren „klare Ansage“ fordernden Mädels aus der Neigungsgruppe „Neue Sachlichkeit“ gibt es in dieser Konstellation gar nicht. Erst quäkt der Nachwuchs mit Mickeymouse-Stimme aus dem Off, dann springen die Schauspielerinnen abwechselnd vom Mutter- zum Tochtertext und zurück.
Vor allem aber schlüpft da ein Riesen-Baby, das in voller Bühnen-Höhe mit viel Augenklappern die Szene beherrscht. Ausstatterin Luisa Wandschneider lässt das niedliche Monster wie einen Sündenfall von Gullivers Riesen-Reise mit viel Dampf und Gegenlicht gebären und im Zentrum der Szene parken. Dort kann es von den verzwergten Müttern nach Bedarf gewindelt, gekleidet und gehätschelt werden, wie es das Gugu-Dada vorschreibt. Ein fabelhaft absurdes Bild. Der Versuch, angemessen gerührt zu sein, stößt dabei zwangsläufig an Grenzen. Die vier Frauen, die alle Gefühls-Standards vom „spitzen Schrei“ bis zum „verschmitzten Lächeln“ in Selfie-Qualität bereit halten, nehmen weitere Wünsche gerne entgegen. Und sei es nur, um sie vorübergehend zu unterlaufen.
Die Nürnberger Inszenierung, die den pointenprickelnden, manchmal aber eben auch verzweifelnd komischen Text strikt wie Brausepulver einsetzt, kann freilich nicht darauf hoffen, dass die Zuschauer wie in einen Spiegel blicken. So gesehen war die Entscheidung, alles nur Show sein zu lassen, nachvollziehbar. Das Ergebnis ist eine schlüssige Alternative zur Uraufführung – wenn auch in einer anderen Liga. Das Premierenpublikum war amüsiert, betroffen sicher nicht. (Dieter Stoll)

 

 

ANDERS

Allgemeine Zeitung // Mainz // 4.05.2016

Anders (UA). Die Farbe der Musik.

von Michaela Paefgen-Laß

Erwachen nach dem Koma – Andreas Steinhöfels Jugendbuch „Anders“ als Bühnenstück von Anne Bader

MAINZ. Seitdem diese fürchterliche Sache passiert ist, kann Felix den Geschmack von roter Musik auf seiner Zunge spüren und an der farbigen Aura seiner Mitschüler Krankheiten diagnostizieren. Das macht ihn zum Außenseiter, eben anders. „Anders“ heißt auch der 2015 erschienen Jugendroman von Andreas Steinhöfel. Das Junge Staatstheater Mainz „justmainz“, zeigt die mit surrealen Episoden durchwobene Geschichte als Uraufführung in einer gut einstündigen Bühnenfassung von Regisseurin Anne Bader. Ihr gelingt es so sachlich wie unsentimental, das Erwachsenwerden vorzustellen als einen Akt schmerzhafter Häutungen und notwendiger Entfremdungen – auch von sich selbst. Eine tröstende Klarstellung für die jungen Menschen im Zuschauerraum und ein leiser Tritt ans Schienbein ihrer erwachsenen Begleiter und Behüter.
Zehn Monate Koma haben Felix (Lilith Häßle) komisch gemacht, zu einem Freak ohne Erinnerungen. Aber auch zu einem, der sich traut, den Mund aufzumachen, Stellung zu beziehen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Das Rundum-Sorglos-Paket, das seine Eltern elf Jahre lang um den Jungen geschürt hatten, haben sie aus Versehen in einer Verkettung unglücklicher Umstände selbst zerstört. Jetzt müssen sie damit zurecht kommen, dass ihr zum zweiten Mal nach 263 Tagen geborenes Kind ein unbekanntes Wesen ist. Felix ist als einziger ehrlich genug, sich den Umständen mit neuem Namen zu stellen. Jede Geschichte hat ihre Seiten und Perspektiven. Elf Protagonisten, gespielt von fünf Darstellern, geben ihre Sicht auf die Dinge in Spiel- und Erzählsträngen zum Besten: Die Eltern (Andrea Querbach und Mathias Renneisen), die Lehrerin (Katharina Alf), die Freunde, der Nachhilfelehrer (Rüdiger Hauffe), die alte Frau und das Huhn Romy. Letzteres taucht knabbernd und gurrend immer im richtigen Moment auf, um der Geschichte die Schwere zu nehmen. Ein pfiffiger Regieeinfall, von Katharina Alf entzückend gespielt. Lilith Häßle zeichnet als Anders der unerschrocken wissbegierige Blick aus, mit dem er seine Umwelt analysiert. Die Bühne in U17 dominiert sinnbildlich dazu ein anfangs im Bühnennebel bedrohlich thronender schwarzer Quader (Bühne Fabian Wendling). Zunehmend zerfällt er in seine Einzelteile. Bildet immer neue Räume, in denen die Erinnerung sich verfängt. Die Puzzlestücke lassen sich von allen Seiten erklimmen und betrachten, geben den Einsichten eine neue Kontur. „Anders“ ist aber auch eine spannend aufgebaute Detektivgeschichte. Denn wer erwachsen wird, hat ein Recht darauf, den Dingen nachzugehen. Ein Ponyhof ist das für niemanden – Punkt.

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung // 3.05.2016

Abschied vom Kindsein.
Uraufführung von Steinhöfels „Anders“ in Mainz

Mit „Rico und Oskar“ ist Andreas Steinhöfel endgültig berühmt geworden. Doch er gehört zu jenen Autoren, die sich selbst und das Schreiben immer wieder neu auf die Probe stellen. Mit „Anders“ hat er vor anderthalb Jahren den Rahmen des Erzählens im Kinder- und Erwachsenenbuch noch einmal erweitert: Der Roman kann tatsächlich alle Leser im Alter von etwa 12 Jahren an faszinieren. Felix Winter, das geradezu erstickend behütete Kind, wird an seinem elften Geburtstag durch zwei unglückliche Zufälle Opfer seiner Eltern Melanie und André. Erst fällt eine leuchtende Eins auf ihn, die sein Vater zusammen mit einer anderen auf dem Dach zu einer großen Elf hatte montieren wollen. Als der schwer Getroffene durch die Einfahrt des gepflegten Familienanwesens taumelt, fährt die Mutter ihn auch noch mit dem schicken Auto an. Die Folge: Koma und Amnesie. Danach ist Felix anders, und so nennt er sich auch: Anders. Er kann das Kranke und die Trauer der Menschen spüren, anhand der farbigen Auren, die sie in seinen Augen umgeben, und er sagt ihnen ihre Gebrechen direkt ins Gesicht. Damit wird er endgültig zum Außenseiter. Außerdem muss er vor seinem Unfall etwas angestellt haben, das ihn zu erdrücken droht. „Anders“ ist ein Buch über Lebensentscheidungen und darüber, dass man ein Kind freilassen muss, um ihm verbunden zu bleiben. Über Schuld und darüber, dass der Tag kommt, an dem man mit ihr Leben muss. An diesem Tag beginnt der Abschied vom Kindsein, auch für Anders, der früher Felix hieß. Meisterhaft verschränkt Steinhöfel in „Anders“ verschiedene Erzählebenen und Erzählweisen, lässt das Märchenhafte in den Realismus dringen.
Wie das auf die Bühne bringen? Offenbar war die Regisseurin Anne Bader von „Anders“ ebenso begeistert wie viele Leser. Im U17 des Staatstheaters Mainz hat sie jetzt, als Uraufführung, eine von ihr selbst geschriebene Bühnenfassung inszeniert – und Steinhöfel, der trotz Kinopremierenstress gekommen war, sah durchaus angetan aus beim Schlussapplaus. Als Theatermacherin hat Bader das ohnehin dichte Buch noch weiter verdichtet und dafür visuelle und akustische Elemente (Matthias Schubert, Jürgen Sippert) genutzt. Die Poesie der Prosa scheint weiter durch, wechseln sich doch die Darsteller, die zwei oder drei Charaktere übernehmen, auch als Erzähler ab. „Anders“ ist auch ein Buch darüber, wie Erwachsene verkümmern können, auf unterschiedliche Weise. Die Farben und die leere Blässe zumal der erwachsenen Figuren haben Bader, ihre Kostümbildnerin Luisa Wandschneider und der Bühnenbildner Fabian Wendling in die hellen wildgelockten Haare, die weißgeschminkten und mit Neonfarben betonten Gesichter ihrer Darsteller gelegt. Erst am Ende kommen die wahren Gesichter zum Vorschein, der Lack ist ab, die Lüge auch. Die Doppelbesetzungen sind wie zwei Seiten einer Medaille. Als neugierige Nachbarin hat Andrea Quirbach die komischen Momente, die Felix’ biestige Mutter so gar nicht hat, als alter Stack ist Rüdiger Hauffe das Gegenteil vom fiesen Nisse, und Mathias Renneisen ist als Ben wie als Vater zwar von den Ereignissen gebeutelt, hat aber das Herz auf dem rechten Fleck. Katharina Alf ist als Romy sicherlich das beste Huhn, dass auf einer Theaterbühne zu sehen sein könnte, was der Schwere der Geschichte weitere Leichtigkeit verleiht. Bader versucht, alle Stränge des Romans aufzunehmen und doch den Schwerpunkt mehr auf die Kriminalgeschichte als auf die Merkwürdigkeiten zu legen, die Anders geradezu anzuziehen scheint. Das Nixenloch etwa, jener düstere Strudel, in dem das Kind sich umbringen will, wird bei ihr zur efeuumrankten Duschkabine. Mit Lilith Häßle ist dieser Junge, der mit sich ringt und am Ende doch den richtigen Weg findet, so nah, wie ein Anders gerade dem jungen Publikum kommen kann. Als Stück funktioniert „Anders“ also durchaus – macht aber noch viel größere Lust darauf, das Buch (wieder) zu lesen. (Eva-Maria Magel)

 

 

DIE PRÄSIDENTINNEN

Westfälische Nachrichten // 7.03.2016

Eine träumt vom Glasmusikanten

von Helmut Jasny

Werner Schwabs derbes Drama „Die Präsidentinnen“ im U2 macht sehr viel Spaß

Münster – Als „Fäkaliendrama“ bezeichnete Werner Schwab seine „Präsidentinnen“, die am Samstag im U2 des Theaters Münster Premiere feierten. Das 1990 in Wien uraufgeführte Stück machte den aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Autor quasi über Nacht berühmt. Und berüchtigt. Denn es wühlt sich ebenso tief wie lustvoll hinein in die Niederungen der Gesellschaft. Radikale Exzesse kultivierte Schwab aber nicht nur auf dem Theater, sondern auch im Leben, das dann entsprechend kurz ausfiel. Am Neujahrsmorgen 1994 fand man den 35-Jährigen zu Tode betrunken in seiner Wohnung.

Anne Bader inszeniert auf einer fast leeren, in tristem Grau gehaltenen Bühne (Melanie Walter). Vor dem neu angeschafften Fernseher, der die Papstmesse überträgt, sitzen die »Präsidentinnen« zusammen und träumen sich aus ihrem kümmerlichen Dasein heraus. Die karge Pensionistin Erna (Regine Andratschke), einmal geschieden, einmal verwitwet, ist fest davon überzeugt, dass »das Geschlechtliche« das Menschliche aus der Liebe treibt. Aus diesem Grund fantasiert sie sich ein katholisch korrektes Verlöbnis mit einem bigotten Metzgermeister zusammen.
Als Gegenpart fungiert die ebenso aufgetakelte wie notgeile Grete (Claudia Hübschmann). Nachdem ihr Mann mit einer Jüngeren durchgebrannt ist, konzentrieren sich ihre Visionen auf das stramme Hosentürl eines Blasmusikanten. Dritte im Bund ist das mehr als einfach gestrickte Mariedl (Natalja Joselewitsch). Sie ist mächtig stolz, dass sie »es ohne macht«. Ohne Gummihandschuhe nämlich, wenn sie als Toilettenfrau die verstopften Klos ausräumt. Den träumerischen Blick bekommt sie, wenn sie im Fernsehen den Papst sieht oder im Bierzelt den Herrn Pfarrer.
Es ist eine giftige Melange aus Bigotterie, Brunft und Kloake, die hier zusammengerührt wird. Trotzdem macht das Ganze unverschämten Spaß. Das liegt zum einen an Schwabs volkstümlich gefärbter Kunstsprache, die Sachverhalte gleichzeitig verbrämt und entlarvt, und zum anderen an der Regie von Anne Bader, bei der trotz aller Komik der Ernst nicht zu kurz kommt. Und vor allem natürlich am hervorragenden Spiel der drei Darstellerinnen. Andratschke, Hübschmann und Joselewitsch meistern sowohl die leisen als auch die schrillen Töne und erzeugen über die ganzen 75 Minuten hinweg einen grandiosen Sound.

 

 

APATHISCH FÜR ANFÄNGER

Die Deutsche Bühne // 04.2016 

RADIKAL SYSTEM KONFORM Schwerpunkt: Junge Schauspielregie

Was wollen Die? Unsere Autoren Jens Fischer und Anne Fritsch im Dialog über 15 Inszenierungen junger Regisseure

[…] Oder „Apathisch für Anfänger“: Um nichts anderes als die Suche nach der Wahrheit geht es. Anne Bader hetzt am Jungen Schauspielhaus in Hamburg dank geschickter dramaturgischer Schnitte und Überblendungen die sich widersprechenden Aussagen über Geflüchtete aufeinander. Das Hin und Her, ständiges Denken und Umdenken erzeugt ein beklemmendes Gefühl, weil dabei die Kritierien bewusst und damit ausgehebelt werden, nach denen wir sonst handlungsorientiert schnell in richtig und falsch sortieren. Das Prinzip Vorurteil wird erfahrbar. […]

 

Hamburger Abendblatt // 26.01.2016

Rätsel um die Flüchtlingskinder. Anne Bader inszeniert mit „Apathisch für Anfänger“ ein nachdenkliches Stück zum Thema Flucht

von Annette Stiekele

HAMBURG. Was ist bloß in Schweden los? Da gibt es Flüchtlingskinder, die aufhören zu essen und zu trinken und apathisch vor sich hinvegetieren. Manipulation der Eltern? Drogen? Trauma? Traumatisierte Eltern? Keine Erfindung. Mitte der Nullerjahre war das Realität in Schweden.

Jonas Hassen Khemiri, Autor mit schwedisch-tunesischen Wurzeln, hat eine subtile theatrale Annäherung an die Ereignisse verfasst: „Apathisch für Anfänger“ für Jugendliche ab 15 Jahren. Dass die Programmmacher es in Zeiten, in denen in Europa über Obergrenzen von Flüchtlingen diskutiert wird, auf den Spielplan des Jungen Schauspielhauses setzen, passt. Anne Bader hat das Stück als eine kühl-karge, gleichwohl spielfreudige und zum Teil sogar humorvolle Wahrheitssuche inszeniert. Hermann Book sitzt darin als Ermittler erst mal in der Sommerfrische. Sie wäre ungetrübt, wenn da nicht diese Stimme (Sophia Vogel) in seinem Ohr wäre, die ihm vorwirft, in seinem unabgeschlossenen Untersuchungsbericht nie Position bezogen zu haben. Und so begibt er sich vier Jahre später auf erneute Wahrheitssuche. „Die haben doch gefaked“, erzählt dem Ermittler eine aufgedrehte Schülerin. „Die Kinder.“ „Und die Eltern.“ „Sie wurden ja entlarvt“. Woher die Schüler das wissen, wissen sie selbst nicht so genau. „Alle wissen das.“ Angeblich. Überdrehte, dennoch geistreiche Spielszenen schildern Einzelschicksale, etwa von dem jungen Mädchen, das in die Klasse kam und auf einmal per Krankenwagen abgeholt wurde. Vor allem Florence Adjidome und Philipp Kronenberg werfen sich akkurat bei hohem Tempo die Spielbälle zu. Es ist ein forderndes Stück. Die Wahrheitssuche wächst sich zu einer wüsten Orgie der Argumente aus. Alle geben ihren Senf dazu, da gibt es die böse Beamtin (Christine Ochsenhofer) den Psychologen (Florens Schmidt) die Lehrer, die Mitschüler, die Medien. Waren am Ende die Beamten Schuld? Das Ensemble ringt dem Stoff ein paar bittere schwarzhumorige Momente ab, wenn die gute Beamtin (Ochsenhofer) auf den angeblich schwer verliebten Asylanten Samu (Kronenberg) trifft. Der Zuschauer bleibt am Ende allein zurück mit Behauptungen, Mutmaßungen, Verdächtigungen und mit diesen bis heute ungelösten Schicksalen. Das Phänomen ist nur in Schweden aufgetreten, möglicherweise wurde es in anderen Ländern einfach übersehen. Die Wahrheit, sie ist nicht zu rekonstruieren. Aber womöglich zählt am Ende, was der Psychologe sagt. „Die Frage ist doch eher, was das Gesehene über uns aussagt. Wer wir sind. Oder sein wollen. Oder nicht sein wollen.“ Ein sehr nachdenklich stimmendes Stück ohne richtiges Ende.

 

 

KRIEG. STELL DIR VOR, ER WÄRE HIER

Hamburger Abendblatt // 24.09.2013

Gedankenexperiment zum Thema KRIEG am Jungen Schauspielhaus

von Annette Stiekele

HAMBURG. Dort, wo bis vor ein paar Minuten die Bühne war, liegt jetzt ein orangefarbener Tretroller für Kinder. Es sieht aus, als sei er eilig hingeworfen und vergessen worden. Doch er ist bedeckt mit schwarzen Ascheflocken. Der Roller liegt wie ein mahnendes Symbol auf dem Boden. Er steht für alles, was in „Krieg. Stell dir vor er wäre hier“ von der dänischen Schriftstellerin Janne Teller gezeigt werden soll.

Gerade war noch alles in Ordnung. Der 23-jährige Björn Boresch und der 25-jährige Benjamin Nowitzky tanzen zu lauter Clubmusik. Von einem auf den anderen Moment stolpern die Schauspieler über ihre eigenen ausgelassenen Bewegungen. Was passiert ist? Deutschland ist aus der Europäischen Union ausgetreten, weil es nicht ewig für die Staatsschulden anderer Staaten aufkommen wollte. Danach eskalierte die Situation: Schluss mit Frieden.

Die zwei Jungen sprechen ihre Sitznachbarn direkt an, dann auch alle anderen. Stell dir vor es wäre Krieg. Sie fragen: „Wenn bei uns Krieg wäre, wohin würdest du gehen? Was würdest du tun, wenn das Haus, in dem du und deine Familie wohnt, Löcher hätte.“ Für die Inszenierung räumt das Junge Schauspielhaus seine Garage aus. Das Tor wird zugezogen. Gerade 40 Zuschauer finden Platz. Zuerst auf Stühlen, doch die nehmen die Schauspieler jedem in der zweiten Hälfte weg.

Die Jungen konfrontieren das Publikum. „Du hast Angst, morgens, mittags, abends. Wenn es irgendwo kracht, zuckst du zusammen.“ Nationalität ist auf einmal eine Frage von Freund oder Feind. Was dann passiert, sollte einem bekannt vorkommen. Die Familie zieht in ein Flüchtlingslager in Ägypten. Es ist die Situation, die auch Flüchtlinge in deutschen Camps durchmachen. Gedanken, die jene quälen, die aus Kriegsgebieten fliehen mussten. Die ihre Heimat zurückließen.

Die Inszenierung von Anne Bader ist ein Gedankenexperiment. Verweigert man sich dem, funktioniert es nicht. Aber denkt man bei den beschriebenen Szenarien wirklich an die eigene Mutter, die mit einer Lungenentzündung im Keller liegt, keinen weiteren Winter überleben wird, an die eigenen Freunde, die man verloren hat – dann ist es nicht nur eine bedrückende Vorstellung. Diese eine Stunde stellt auch die Position jedes Zuschauers jenen Menschen gegenüber infrage, die in Deutschland Schutz suchen.

 

 

WIR OHNE UNS

Hamburger Abendblatt // 02.04.2012

Berührend: Nino Haratischwilis neues Stück „Wir ohne Uns“ (UA)

HAMBURG. Worin die große Traurigkeit besteht, die Nino Haratischwilis neues Stück „Wir ohne uns“ durchzieht, soll nicht verraten werden. Dafür ist die Auflösung zu einschneidend. Aufgelöst sitzen sich die Zuschauer nach der Uraufführung am Sonnabend in der Hamburger Botschaft in zwei Blöcken um die Bühne gegenüber. Tränen, die sich in Tränen spiegeln.

„Bist du da?“, fragt Bo sehnsüchtig, sobald er eingeloggt ist. In dem Drama, das die Hamburger Autorin im Auftrag des Jungen Schauspielhauses geschrieben hat, erschaffen Bo und Amina aus ihren Jugendzimmern heraus im Chat eine gemeinsame Welt, in der ihr digitales Ich Projektion der eigenen Wünsche wird – sie erleben (gem)einsam eine ausgedachte Geschichte, bis die Grenzen zur Realität zerfließen.

Dieses vielschichtige Spiel der Ebenen inszeniert die junge Regisseurin Anne Bader gekonnt: Ein illuminierter Kubus repräsentiert die Chatwelt – wenn die Darsteller ihn betreten, loggen sie sich ein, ansonsten sind sie allein, sehen sich nicht an, jeder für sich in der deprimierenden Blase der Einsamkeit. Jonathan Müller und Sandra Maria Schöner überzeugen in der Darstellung zweier wandelbarer Menschen, die nur Platzhalter für die Worte sind, die sie im Netz von sich geben. (ditt)