Justiz-Drama mit bitterem Beigeschmack. Prima Facie von Suzie Miller im Schauspielhaus Graz. Passend zum internationalen Kampftag der Frauen setzte auch das Schauspielhaus Graz das viel gespielte Ein-Frau-Stück der australischen Autorin und Juristin Suzie Miller auf den Spielplan.
von Lydia Bißmann
Unter der behutsamen Regie von Anne Bader legt Anna Rausch nicht nur eine quantitative Meisterleistung hin. Fast 100 Minuten bestreitet die Schauspielerin im erzählenden Monolog das Stück quasi im Alleingang. Unterstützung bekommt sie dabei von Otiti Engelhard und Luise Schwab, die als Supporting Actress fungieren und den inneren Konflikt der Hauptfigur Tessa zum Ende des Stückes hin greifbarer machen. Die Dreier-Konstellation spielt auf die Statistik an, dass fast jede dritte Frau von sexueller Übergriffen betroffen ist. Die Wandlung von der selbstbewussten, erfolgsverwöhnten Nachwuchs-Strafverteidigerin zur Klägerin, die genau weiß, gegen wen sie kämpft und dass der Kampf nicht zu gewinnen ist, ist eine Klasse für sich. Anna Rausch gekonnter Wechsel zwischen der ehrgeizigen, erfolgsverwöhnten Strafverteidigerin, zum verletzten, verstörten Wesen sorgt für Gänsehaut und Spannung, obwohl das Ende von der ersten Szene an ganz klar vor Augen liegt. “Prima Facie “ ist der juristische Ausdruck für Anscheinsbeweis und das sorgt schon vor dem Besuch des Theatersaals für einen Spoiler. Wenn eine Frau dann noch so selbstbewusst und selbstsicher in Talar und Perücke erscheint, kann sie nur fallen. Das wäre vielleicht auch bei einem männlichen Helden so, nur dass bei Frauen die Fallrichtung immer dieselbe ist. Noch dazu, wenn es sich dabei um eine Aufsteigerin im britischen Klassensystem handelt.
Beklemmendes Understatement auf der Bühne
Eine großzügige Treppe samt Hintergrund aus elegantem, cognacfarbenem Holzfurnier (Hannah von Eiff) sorgt für Seriosität und vermittelt die Atmosphäre von Gerichtsräumen, in denen Tessa im Alltag ihrer Arbeit nachgeht. Gelegentlich durchbricht der Blick auf einen Vernehmungsraum in viel zu hellem Weiß die Szene. Unterlegt werden die (ver)störenden Sequenzen dabei von dramatischen Technobeats (Matthias Schubert), die das Unheil ankündigen und manifestieren. Anna Rausch als Tessa erzählt ihre Geschichte genau und ohne störendes Beiwerk. Die exakt und akkurat geschilderten Gefühle bleiben dennoch sachlich, es ist mehr die Körpersprache und Mimik der Schauspielerin, die ihre Entwicklung illustriert und für Unwohlsein beim Zusehen sorgt. Die Darstellerinnen erobern auch den Publikumsraum für sich, das eingeschaltete Saallicht vermittelt den Eindruck, als würde man tatsächlich einer Verhandlung beiwohnen.
Toxisches System ohne Ausweg
Tessa war nie eine Täterin, hat einfach ein System mitgetragen, von dem sie überzeugt war und das Spiel des Erfolgs genossen. Dass sie viele Sexualstraftäter verteidigt, hat sich aus Zufall so ergeben. Trotzdem ertappt man sich beim Zusehen immer bei den Gedanken, was die junge Frau anders, besser, oder nicht tun hätte können. Nicht nur in der Situation, in der sie die Gewalt erlebt hat, sondern auch schon viel vorher. Das ist unangenehm und beschämend, aber es gibt kein Entrinnen. Ihr Peiniger bekommt wenig Raum zur Interpretation, was die Sache noch unheimlicher macht. Wie so viele Täter, stammt er aus Tessas direktem Umfeld, ist sogar ein Mann, in den sie sich ein wenig verguckt hat. Er ist ebenfalls Strafverteidiger, kommt noch dazu aus einer gut situierten Upper-Class-Familie. Dass es ein Kampf gegen Windmühlen wird, weiß Tessa, trotzdem nimmt sie ihn auf und zeigt ihren Peiniger an.
Nicht ohne Grund wird Prima Facie seit dem Erscheinen 2022 auf allen Bühnen auf und ab gespielt. Suzie Millers Text kommt ohne Spielereien und allzu viel biografische Hinweise aus, die Hauptfigur ist zugänglich und unkompliziert zu erfassen. Das konzentrierte Spiel von Anna Rausch, unter der behutsamen, aber kraftvollen Inszenierung von Anna Bader und ihrem Team, hauchen der Allerweltsfigur Tessa, der jungen Karrieristin Leben und Tragik ein, geben dem Stück Körper und Tiefgang und machen es zur Kunst. Dafür gab es dann auch wohlverdiente Standing Ovations und ungewohnt langen Applaus.
(Bildnachweis/Credits: Lex Karelly)
KRONEN ZEITUNG // 10. März 2024
Plötzlich gerät eine Anwältin in ihr eigenes Kreuzverhör
Schauspielhaus Graz: Der globale Bühnenhit „Prima Facie“ erzählt von einer Anwältin, die erfolgreich Männer verteidigt, denen Sexualstraftaten vorgeworfen werden. Doch eines Tages wird sie selbst zum Opfer.
von Christoph Hartner
Tessa Ensler hat es geschafft. Aus einfachen Verhältnissen hat sich die smarte und ehrgeizige Frau nach oben gearbeitet: Klassenbeste in der Schule, Jus-Studium an einer briti- schen Elite-Uni, toller Job in einer renommierten An- waltskanzlei in London. Dort erarbeitet sie sich schnell eine Reputation, weil sie Männer verteidigt, die wegen Sexualstraftaten vor Gericht stehen. Ihr Ta- lent: Akribisch bereitet sie sich vor, klammert sich an das Gesetz und legt Wider- sprüche in den Aussagen der Anklägerinnen und Ermitt- lungsfehler der Polizei und Staatsanwaltschaft frei. Und weil es eben „im Zweifel für den Angeklagten“ heißt und Tessa weiß, wie sie Zweifel sät, ist sie außerordentlich erfolgreich.
Doch dann wird Tessa selbst zum Opfer und muss erkennen: Im Falle von Ver- gewaltigung gibt es kein „ordnungsgemäßes Verfah- ren“ – ein solches Erlebnis ist so außerordentlich wie ihr Talent. Aber dieses hilft ihr als Opfer nicht mehr: Sie macht nach der Tat, beim Verhör auf der Polizei- station und vor Gericht die gleichen Fehler, wie all die Frauen, denen sie einst im Kreuzverhör begegnet ist.
Mit „Prima Facie“ hat die australische Autorin Suzie Miller ein Stück ge- schrieben, das spätestens seit seinem Debüt am Lon- doner West End im Jahr 2022 mit TV-Star Jodie Comer zu einem internatio-
nalen Phänomen geworden ist. Das Stück erzählt näm- lich nicht nur die Entwick- lung einer Frau von der Ver- teidigerin der Täter hin zum Opfer, sondern stellt auch viel größere Fragen: Kann man ein so intimes Verbre- chen wie eine Vergewalti- gung überhaupt mit den Mitteln der Rechtsordnung behandeln? Ist das Justiz- system der richtige Ort für die Aufarbeitung einer solchen Tat? Kann Recht für Gerechtigkeit sorgen?
Anne Bader inszeniert den fesselnden Theatermonolog in Graz nicht als reine One- Woman-Show, wie das die meisten Inszenierungen bisher gemacht haben. Mit der grandiosen Anna Rausch, die Tessa als eine Frau spielt, die an ihrem eigenen Ehrgeiz und ihrem blinden Vertrauen an die Macht der gesetzlichen Ordnung scheitert, stellt Bader an- fänglich zwar eine einzelne Schauspielerin ins Zentrum. Doch ab dem Zeitpunkt, wo Tessa zum Opfer wird, steht sie in dreifacher Ausführung (Otti Engelhardt und Luisa Schwab) auf der Bühne von Hannah von Eiff.
Dieser Kniff sorgt nicht nur dramaturgisch für spannende Momente, sondern ist vor allem auch schlüssig: Eine von drei Frauen wird aktuellen Studien zufolge im Laufe ihres Lebens zum Opfer von sexualisierter Ge- walt: „Sehen Sie nach links, sehen Sie nach rechts, eine von uns“, sagt Tessa an einem Punkt im Stück. Was hier erzählt wird, ist kein trauriger Einzelfall – es hat leider System. Und das Justizsystem hat darauf – so scheint es – nicht die richtigen Antworten.
DIE BRÜCKE VON MOSTAR (DSE)
nachtkritik // 16. September 2023
Millie lebt
Brücken gelten als Symbol des Lebens. Oder für den Tod, wie die von Mostar, die im Bosnienkrieg zerstört wurde. In seinem preisgekrönten Stück „Die Brücke von Mostar“ erzählt der Autor Igor Memic von den Ereignissen bis in die Gegenwart. Regisseurin Anne Bader hat daraus einen eindrucksvollen Abend gemacht.
Von Karin Yeşilada
16. September 2023. „Stand with Ukraine“ ist ein geläufiges Wort, gerade erst wieder durch die Außenministerin bekräftigt. Did we stand with Bosnia? Wer glaubt, dass der durch den russischen Überfall auf die Ukraine ausgelöste Krieg „der erste in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg“ sei, irrt sich. Vor 30 Jahren tobte nur tausend Kilometer Luftlinie von Deutschland entfernt der Bosnienkrieg mit unvorstellbarer Grausamkeit. Die tief traumatisierten Überlebenden dieses Krieges leben unter uns, Täter ebenso wie Opfer. Wissen die Kinder und Enkelkinder, was ihre Eltern, Großeltern erleiden mussten?
Mit „Old Bridge“ hat der bosnisch-britische Autor Igor Memic im Jahr 2020 die Erinnerungen der Generation seiner Eltern auf die Bühne gebracht. Sein Debüt wurde sogleich mit dem Papatango New Writing Prize und dem Olivier Award ausgezeichnet. Kein Wunder, ist seine Liebes- und Erinnerungsgeschichte aus dem Bosnienkrieg doch so berührend, dass am Ende des Abends in Oberhausen etliche Zuschauer*innen stehend applaudieren und sich die Tränen wegwischen.
Stari Most, die Brücke von Mostar, war ein osmanisches Bauwerk aus dem 16. Jahrhundert und verband den muslimisch geprägten Ostteil Mostars mit dem katholisch geprägten Westteil der Stadt. 1993 von kroatischen Truppen zerstört und später wieder aufgebaut, wurde das mittlerweile zum Weltkulturerbe erhobene Bauwerk zum Symbol für die sinnlose Zerstörung im Religionskrieg des ehemaligen Jugoslawien. Unsichtbar auf der Bühne, ist die „Old Bridge“ im Stück der zentrale Ort, an dem sich das Liebespaar Mina und Mili begegnet und wieder verliert.
Die Brücke als Symbol des Lebens
Dazwischen liegen eine erst glückliche und dann im Krieg verlorene Jugend. Zu Beginn und am Schluss des Stücks springen die jungen Männer nach alter Tradition von der Brücke in die Neretva (auch dies nur vor dem inneren Auge sichtbar), und Mina, die sich 1988 sofort in den athletischen Mili verliebt hat, wird seiner auch 2003 noch gedenken, wenn er schon längst tot ist. Was sie bis dahin erlebt hat, erzählt ihr Alter Ego Emina (gespielt von Simin Soraya) vom Bühnenrand aus als Erinnerung und Reflexion.
Ihre Rückblicke in die Jahre 1988 bis 1993 und dann 2003 finden als reale Bühnenhandlung statt, in der vier Figuren agieren. Die Erzählerin unterbricht diese Handlung immer wieder (was dank der Ausleuchtung von Stefan Meik jeweils gut deutlich wird) oder mischt sich, vor allem im zweiten Teil, unter die Figuren und steigt mit in die Handlung ein. Am Ende des Stücks sind von vier Freunden nur noch zwei am Leben, dann nur noch Mina, aber ihr Kind Millie hat eine Zukunft, womöglich in London, wohin sie immer gehen wollte, und wo der Autor des Stückes lebt.
Eine vom Krieg zerstörte Jugend
1988: Der Springer Mili (Philipp Quest) findet schnell Anschluss an die Gruppe der drei Freunde Mina (Franziska Roth), Leila (Ronja Oppelt) und Sasha (David Lau), und zu viert verleben die jungen Leute eine unbeschwerte Jugend voller Musik und Tanz, mit Gitarre, Kippen und Alkohol, den nur die kroatischen Jungs trinken, weil die bosnischen Mädchen muslimisch-brav abstinent bleiben. Darüber wird nicht gestritten, sondern gescherzt; die Stimmung ist unbeschwert, auch im Publikum, das über Minas und Milis Liebesgeturtel kichert, und alle haben „The Time of My Life“, ein Song, der immer wieder aus dem Ghettoblaster erklingt (Musik: Matthias Schubert). Sie lieben das Leben à la Dirty Dancing, schmieden Zukunftspläne: Studieren, Familie gründen, ins Ausland gehen.
In diese Heiterkeit und Coolness späten 1980er (die der Autor seiner Elterngeneration attestiert) bricht der Bürgerkrieg ein, erst allmählich – Lebensmittelknappheit hier, Prügeleien dort – dann unvermittelt. Plötzlich fallen Bomben, es wird lebensgefährlich, Waffen zur Selbstverteidigung werden besorgt. Und dann folgt das Grauen. Auf der Flucht werden Mili und Mina für immer auseinandergerissen, sogenannte ethnische Säuberungen bedeuten Vergewaltigung und Massenmord. Wer überlebt, geht am erlebten Trauma zugrunde.
Memic bringt mit seinem Stück verschüttete Erinnerungen an diese Kriegszeiten der 1990er zurück: Etwa, dass Heckenschützen (und auch aus Deutschland kamen sie nach Bosnien) unschuldige und nichtsahnende Zivilisten, auch Kinder, einfach so abknallten, ohne dafür je zur Rechenschaft gezogen zu werden. Leila stirbt auf diese Weise, und Mina schaut später ihrem Mörder direkt in die Augen, betet dann und spricht mit ihrem ungeborenen Kind – eine Wahnsinns-Szene. Memic findet für diese Abgründe eine auch in der deutschen Übersetzung noch poetische Sprache, die berührt: Als die old Bridge vor ihren Augen fällt, sagt Mina: „Ich habe länger gelebt als diese Brücke.“
Anhand des Schicksals der vier sympathischen Leute wird die ganze Absurdität und Grausamkeit des Jugoslawienkrieges noch einmal furchtbar plastisch erlebbar. Am Ende bleibt Mina alleine übrig, und mit ihr die süßen Erinnerungen an eine wunderbare Jugend, die jäh endete. Natürlich gehen die Gedanken da von Bosnien-Herzegowina in die Ukraine. Stark ist auch, dass Memic dafür viel Imaginationsraum lässt. Nicht alles wird ausgesprochen oder ausagiert; es braucht keine computeranimierte Bombastik, um die Bomben zu spüren.
Spiel in eindrucksvoller Kulisse
Die fünf Schauspieler*innen machen ihre Sache gut: Sie tanzen und lachen unbeschwert und wechseln dann überzeugend in die wachsende Verzweiflung des Kriegs hinüber. Die Inszenierung findet schöne Bilder, etwa wenn Emina trauernd am Bühnenrand sitzt, während Abschiede genommen werden, die sich als Abschiede für immer erweisen werden, oder sie eine trauernde Figur in den Arm nimmt. Das Ganze findet in einer wunderbaren Kulisse statt, einem großen, zweistöckigen Gebäuderahmen mit fünf begehbaren Räumen, was sich bei näherem Hinsehen als senkrecht aufgestellter, zweidimensionaler Wohnungsgrundriss entpuppt (Bühne: Luisa Wandschneider), der dank der wechselnden Beleuchtung unterschiedliche Stimmungen erzeugt.
In dieser von Regisseurin Anne Bader und Dramaturg Jascha Fendel erarbeiteten Inszenierung stimmt alles, und das eindrucksvolle Stück ist absolut sehenswert. Interessant: Alle Beteiligten, vom Autor über die Schauspieler*innen bis zum Theaterteam, scheinen kaum älter als Mitte dreißig, was hieße, dass sie den Jugoslawienkrieg kaum bewusst mitbekommen haben dürften. Umso bedeutender die Erinnerungsarbeit, die sie alle gemeinsam leisten.
WAZ // 17. September 2023
Action-Drama „Mostar“ zeigt die Schrecken des Bürgerkrieges
OBERHAUSEN. Zur deutschsprachigen Erstaufführung im Theater Oberhausen kam auch Autor Igor Memic aus London: Der Kraftakt des Ensembles begeistert.
von Ralph Wilms
Eine leere Wohnung, um 90 Grad „nach oben gekippt“, bildet das Bühnenbild zum Kriegs- und Liebesdrama „Die Brücke von Mostar“ – ein Hingucker der jungen Bühnenbildnerin Luisa Wandschneider.
Das packende Drama beginnt als romantische Komödie zu quietschigen Hits der 1980er und mit staunenden Blicken auf eine (für das Publikum im Großen Haus des Theaters Oberhausen unsichtbare) Touristenattraktion: „Die Brücke von Mostar“ ist im gleichnamigen Debüt von Igor Memic eine heimliche Hauptdarstellerin – neben einem Ensemble, das in diesem physisch und sicher auch emotional kräftezehrenden Spiel alles gibt und dafür großen Applaus erntet.
„Old Bridge“, so der Originaltitel dieser deutschsprachigen Erstaufführung, inszeniert von Anne Bader, überspannt die Jahre von 1988 bis 2004, also auch die frühen 1990er Jahre der Kriege im zerfallenden Jugoslawien. Und die „Titelheldin“, wenn man so will, ist in mehrfacher Hinsicht ein treffendes Symbol – nicht nur wegen der gezielten Zerstörung des 1566 erbauten Wahrzeichens von Mostar, „nur zwei Jahre jünger als Shakespeare“, durch kroatische Truppen und dank des Wiederaufbaus, der elf Jahre später vollendet war. Auch die „Fallhöhe“ der todesmutigen Brückenspringer, die sich mit ausgebreiteten Armen als „Lasta“ („Schwalbe“) in die eiskalte Neretva stürzen, ist eine Metapher für den Mut, den die beiden Heldinnen und die beiden Helden dieses Dramas aufbringen müssen.
Dabei beginnt alles mit einer koketten 19-jährigen im knallbunten „Nena“-Outfit. Als Mina gibt Franziska Roth die vollendete Kleinstadt-Prinzessin: immer um Coolness bemüht, obwohl immer noch ein nervöser Teenager, schlagfertig bis schnippisch – an ihrer Seite Ronja Oppelt als beste Freundin Leila. Die coolste Socke aber darf David Lau als Sasha spielen (in verspätet hippiesker „Wolle“ Petry-Optik), der sich selbst im (noch) multikulturellen Mostar als „halb-katholischer, achtelsdeutscher Roma-Jude mit einem muslimischen Ur-ur-Irgendwas“ beschreibt.
Der Neue aus Dubrovnik wagt den Sprung von der Brücke
Zu diesem verschworenen Trio stößt Philipp Quest als Mili, der Neue aus Dubrovnik, der es wagt, beim Brückenspringen mitzumachen – und die unbeeindruckbare Mina natürlich schwer beeindruckt. Es ist ein trefflich simpler und wirkungsvoller Theater-Coup, das Trio vom Bühnenrand zur imaginären Brücke hochblicken zu lassen. Coole Pointen liefert Igor Memic ihnen wie ein ausgebuffter Boulevard-Schreiber – zu denen die Drei, die auf Springer starren, synchron Bierdosen knacken.
Dass hinter dem sportlichen Idyll weit Schlimmeres dräut, als eine schmerzhaft-unperfekte „Lasta“ aus 19 Metern Höhe – dafür steht die zunächst ruhige, später angsterfüllte oder zornbebende Präsenz von Simin Soraya als Emina: Sie blickt aus der Nachkriegszeit zurück auf ihr jüngeres Ich namens Mina, bündelt als Erzählerin die über Jahre gespannten Ereignisse – und greift gelegentlich tröstend ins Spiel der „Rückblenden“ ein.
Wohnung wird zur Zuflucht – aber auch zum Gefängnis
Mit ihnen wechselt das Geschehen von der Vorderbühne in eine monumentale, immer bedrohlicher erscheinende Kulisse: Bühnenbildnerin Luisa Wandschneider hat „nur“ eine leere Wohnung um 90 Grad „nach oben gekippt“. Doch damit ist alles verkehrt: Für die Clique, die immer fort wollte aus der „langweiligsten Stadt der Welt“, die von Europas Metropolen träumte, wird die Wohnung von Mina und Mili zur Zuflucht – aber auch zum Gefängnis. Denn aus den Bergen ringsum können Scharfschützen die meisten Straßen beschießen.
Sounddesigner Matthias Schubert lässt keine Gewehrsalven knattern: Seine synthetische Klangkulisse lässt das Unheil ahnen, aber sie protzt nicht, sondern dosiert die akustische Wucht. „Der Teufel hat sich deine kleine Stadt ausgeguckt“, sagt Emina, „und es gefiel ihm so gut, dass er sich entschied zu bleiben.“
Jeder Einkauf wird zur lebensgefährlichen Kommandoaktion. Wie die Coolness der Vier bald der nackten Angst weicht, wie sie dennoch mit letztem Trotz und mit Partyhütchen das neue Jahr feiern – das ist von allen Fünf auf der Bühne großartig gespielt. Batterien für den Ghettoblaster sind ihnen mindestens so wichtig wie Brot und Konserven – denn „Girls just Want to Have Fun“. Cyndi Laupers Parole steht hier nicht für Verblendung, sondern für eine Erinnerung, an der sich die Clique immer wieder aufrichtet.
Doch dann hört Leila, dass ihre schon totgeglaubte Mutter in einem großflächig zerschossenen Stadtviertel noch lebt. Sie verlässt die Wohnung – und Sasha bringt sie als Sterbende zurück. Als schließlich Milizen in ihre Wohnung eindringen, müssen auch Mili und Mina – voneinander getrennt – fliehen. Wie die Schwangere auf blutenden Füßen durch von Scherben übersäte Gassen und über die Brücke jagt, das erzählt/spielt nun Simin Soraya, quasi Hand in Hand mit ihrem mädchenhaften jüngeren Ich.
Die Mittel des Theaters für ein „Film-Script“
Nicht nur ihre Flucht über den imaginären Brückengrat ist ein Balanceakt – sondern auch die Inszenierung eines Textes, der in Teilen wie das Drehbuch eines Action-Filmes geschrieben ist. Anne Baders Regie aber setzt in den richtigen Momenten auf Stilisierung, setzt sicher auf jene Effekte, die der Bühne zukommen. Das Spiel des Ensembles ist derart mitreißend und bewegend für die schließlich stehend applaudierenden Zuschauer, dass sich alle bemühten Analogien zum heutigen Kriegsgeschehen, 30 Jahre nach den Kämpfen um die Brücke von Mostar, erübrigen.
Süddeutsche Zeitung // 17. September 2023
Näherkommende Einschläge
Die schlimmste Mutprobe ist der Krieg: „Die Brücke von Mostar“ von Igor Memic als deutsche Erstaufführung am Theater Oberhausen.
Von Martin Krumbholz
Mostar liegt im Süden von Bosnien-Herzegowina, nahe dem Meer. Die Alte Brücke, von der Igor Memic erzählt, zu Shakespeares Zeiten erbaut, 1993 im Krieg zerstört, 2004 wieder aufgebaut, symbolisiert die Zweiteilung des Landes und der Stadt, denn sie verbindet (oder verbindet eben nicht) die kroatisch-katholische Bevölkerung mit der bosnisch-muslimischen. Jugoslawien war vor seiner Auflösung ein vorbildlich multi-ethnisches, wenn auch künstliches Gebilde; Mostar wird im Stück als „ein unendlich verdrehter Zauberwürfel aus Religionen“ bezeichnet. Der grau- same Bürgerkrieg zwischen 1992 und 1995 hat dem Würfel seine Magie genommen. Davon handelt das Stück „Die Brücke von Mostar“ (im Original: „Old Bridge“).
Der britisch-bosnische Autor Igor Memic beginnt seine Chronik bewusst mit einer Idylle. Die Alte Brücke war (und ist) ein Hotspot für Mutproben: Junge Leute springen aus gut 20 Metern in den Fluss. Wir erleben zwei Paare, die in den späten Achtzigerjahren hier ihre Freizeit verbringen, rau- chen, trinken, Musik hören, flirten. Nur eine Person aus dem Quartett wird den Krieg überleben: Emina, beeindruckend und berührend gespielt von Simin Soraya, die als Erzählerin der Chronik fungiert und aus größerem zeitlichen Abstand die Ereignisse der Achtziger- und Neunzigerjahre aufruft, kommentiert und ihnen zusieht. Denn Memic‘ schöner Kunstgriff liegt in der Zweigleisig- keit von Aktion und Reflexion. Emina ist zweimal vorhanden, als Erzählerin und Akteurin, als ältere und jüngere Person.
Anne Bader hat das Stück am Theater Oberhausen inszeniert, das sich unter der Intendanz von Kathrin Mädler intensiv um Ur- und Erstaufführungen bemüht. Die Bühne von Luisa Wandschnei- der zeigt ein abstraktes, brückenähnliches, mehrstöckiges Konstrukt, das dem in die Vertikale gestellten Grundriss einer Wohnung entspricht. Darauf toben die vier jungen Leute sich buchstäblich aus, machen sich an, agieren ihre kleinen Konflikte aus, während die Erzählerin dem entweder distanziert zusieht oder, später, sich auch mal physisch einmischt. Mit dem Ausbruch des Krieges, mit dem (hörbaren) Näherkommen der Einschläge werden die Konflikte der Vier plötzlich existen- ziell. Soll man es riskieren, die gemeinsame Wohnung zu verlassen, um ein Shampoo oder ein Päckchen Nudeln zu besorgen, oder zieht man sich besser, solange es geht, in die scheinbare Sicherheit der eigenen vier Wände zurück? Auf der Straße lauern Heckenschützen.
Das Stück hat politisches Format, gerade weil es nicht ideologisch ist
Igor Memic, der inzwischen in London lebt und für sein erstes Stück bedeutende Preise gewonnen hat (unter anderem den Olivier Award), schreibt klare, lebensnahe Dialoge. Er interessiert sich für seine Figuren, den schluffigen Sasha (David Lau) und die smarte junge Emina (Franziska Roth), den linkischen Mili (Philipp Quest) und die burschikose Leila (Ronja Oppelt), und er zeigt, in welch katastrophalem Ausmaß die sogenannten ethnischen Säuberungen die Perspektiven junger Men- schen ruinieren, die nicht primär Muslime oder Christen sein, sondern einfach leben wollen. In dieser Geste des Autors liegt ein erfrischender Universalismus, der wertvoller und zukunftsgerich- teter ist als jede Suche nach Identität. Emina erklärt einmal, man könne zwar notfalls Wochen ohne Nahrung auskommen, aber ohne eine Handvoll Kaffee oder eine Schachtel Zigaretten ver- hungere die Seele.
Und hierin liegt ein entscheidender Vorzug des Textes: Seine Zuspitzungen richten sich auf die menschliche, emotionale Seite, nicht auf ein ideologisches Unterfutter welcher Provenienz auch immer. Davon ist „Die Brücke von Mostar“ weit entfernt, und gerade darin liegt das politische For- mat des Stücks. Politik ist nicht Ideologie. Das spiegelt die Oberhausener Inszenierung wider, in ästhetischer Klarheit und hoher Emotionalität.
EIN VOLKSFEIND
KURIER // Wien // 29.01.2023
Ibsens „Volksfeind“ in St. Pölten: Böse Machtspiele
Die Inszenierung am Landestheater NÖ brachte fein geführt und eine thematisch hochaktuelle Erzählung.
von Susanne Zobl
Theater, die aktuell sein wollen, müssten nur bei Henrik Ibsen nachschlagen. Sein „Volksfeind“ ist 140 Jahre nach der Uraufführung in Oslo das Stück zur Stunde.
Denn es geht um alles, was uns heute berechtigte Sorgen macht: die Zerstörung der Umwelt, Missstände, Gier, Kapitalismus, Tourismus, Politik – besonders brisant am Premierenabend zwei Tage vor der bevorstehenden Wahl in Niederösterreich – und einen Wissenschafter und Warner, auf den niemand hören will.
Anne Bader konzentriert im Landestheater NÖ in St. Pölten die fünf Akte auf kompakte eineinhalb Stunden und demonstriert mit ihrer abgeschlankten Textfassung Ibsens Aktualität und Brisanz. Gespielt wird vor der Projektion einer verschneiten Berglandschaft in einer Art Therme (Bühne: Franziska Bornmann). Das funktioniert glänzend. Vogelgezwitscher wird je nach Bedarf mit einer Fernbedienung eingeschaltet, denn die geflügelten Sänger sind von der Bautätigkeit an der Küste vertrieben worden.
Die Geschichte wird in knappen Szenen, wie in Videoclips, schlüssig erzählt. Stockmann hat gefährliche Keime im Wasser des Kurbades entdeckt, Tochter Petra bringt ihm den Brief mit den Laborergebnissen. Mit Hovstadt, dem Journalisten des „Volksboten“, soll die Misere aufgedeckt werden. Doch der Redakteur richtet sich nach der Politik. Stockmann wird vor der Bürgerversammlung als Volksfeind diffamiert.
Das Personal ist auf sechs wesentliche Figuren reduziert. Die treibenden Kräfte sind bei Bader zwei Frauen. Stockmanns Schwester, die Stadtvorsteherin (im Original Stockmanns Bruder, der Stadtvogt) und Petra, Stockmanns Tochter. Anders als bei Ibsen ist sie es, die den Vater zum Weitermachen drängt und zum Aktivisten werden lässt.
Jede dieser Figuren ist präzise geführt. Gespielt wird ausgezeichnet. Bettina Kerl verkörpert eine eiskalte Politikerin. Empathie ist ihr fremd. Als sie von Stockmanns Enthüllung erfährt, greift sie zur Gegenmaßnahme und wendet sich wie eine Art Big Sister per Video-Projektion an das Volk.
Stockmanns treibende Kraft ist seine Tochter Petra, eine Repräsentantin der „Fridays for Future“-Generation, wie Bader im KURIER-Gespräch vorab erklärte. Berührend singt sie am Anfang und Ende „Alles renkt sich wieder ein“ von Gustav.
Tim Breyvogel überzeugt als schleimiger Journalist Hovstadt, Tobias Artner agiert gut als dessen Mitarbeiter Billing. Exzellent stellt Tilman Rose den Unternehmer und Drucker Aslaksen als nur auf Profit orientierten Mann dar, spielt mit seiner Stimme, die er bis ins Falsett schwingt. Michael Scherff zeigt Stockmann als naiven, sympathischen, Wissenschaftler, der zum Revolutionär mutiert.
Am Ende setzt er noch zu einer Schüttaktion an- Last Exit Aktivismus. Punkt. Fertig. Viel Applaus für diese absolut sehenswerte Aufführung.
ORF // Wien // 28.01.2023
Ibsens „Ein Volksfeind“ stimmig verknappt
Ökologie gegen Wirtschaft, Wahrheit gegen Lüge, Medien im Würgegriff der Mächtigen – in Henrik Ibsens Drama „Ein Volksfeind“ finden sich thematische Dauerbrenner zuhauf. Am Landestheater NÖ erhielt eine stimmig verknappte Inszenierung am Freitag viel Beifall.
von Ewald Baringer
Man trifft sich im Dampfbad, die Kostüme sind aus hellen Woll-und Walkstoffen gefertigt, bei Bühne und Beleuchtung wird auf Nachhaltigkeit gesetzt. Da ist man in St. Pölten schon etwas weiter als im kleinbürgerlichen Kurort, wo das Stück handelt. Dass der Protagonist, der Kurarzt Dr. Stockmann, zur Frau mutierte, gab es schon 2019 in Salzburg.
Diesmal ist es hingegen Stockmanns Bruder, der bei der Inszenierung von Anne Bader zur Schwester wird. Bettina Kerl verkörpert die „Stadtvorsteherin“ mit allen Nuancen politischer Impertinenz und zwingt den durch seine Aufdeckungen unbequemen Verwandten (Michael Scherff verleiht ihm sehr sympathische Züge) in die Knie. Vertuschung und postfaktische Strategien sind allgegenwärtig. Auch Frauen können gehörig Unheil stiften, nicht nur alte weiße Männer.
Die stimmig verknappte Inszenierung von Anne Bader erhielt bei der Premiere am Freitagabend viel Beifall @ Franzi Kreis
Protestaktionen
Die restliche Familie spart Bader aus – mit Ausnahme von Stockmanns Tochter Petra (Laura Laufenberg), der eine zentrale Rolle zukommt. Zu Beginn und am Schluss singt sie „Alles renkt sich wieder ein“ von Eva Jantschitsch aka Gustav. Als die Stadtvorsteherin eine ihrer 08/15-Reden hält, taucht Petra plötzlich aus dem Off auf und schüttet Farbe gegen die Leinwand, auf der die Politrede übertragen wird: eine sehr deutliche Anspielung auf gegenwärtige Protestaktionen, und vielleicht sogar eine Anregung. Am Ende des Stücks wird auch Stockmann mit einem Kübel in der Hand gegen die alpine Landschaftskitsch-Kulisse ausholen.
Als opportunistische Zeitungsredakteure überzeugen Tim Breyvogel und Tobias Artner, Tilman Rose gibt den bürgerlichen Mann der Mitte mit tückischem Lächeln: Wendehälse, die nur auf den ökonomischen Vorteil bedacht sind ohne Rücksicht auf Risiken, vorgeblich im Interesse der Mehrheit – einer manipulierten und/oder unwissenden Mehrheit. Just zwei Tage vor der niederösterreichischen Landtagswahl könnte man in diesem Stück durchaus eine starke Ansage mit einigen Interpretationsoptionen sehen.
KURIER // Wien // 25.01.2023
„Sind wir wirklich so egoistisch?“
Anne Bader. Die in Wien lebende Regisseurin über ihre Inszenierung von Henrik Ibsens „Ein Volksfeind“, die am 27. Jänner in St. Pölten Premiere hat, und die Problematik rund um den Klimawandel
Von Thomas Trenkler
Zuletzt, zur Saisoneröffnung im September 2022, inszenierte Anne Bader am Theater Lübeck „Gi3F (Gott ist drei Frauen)“ von der österreichischen Dramatikerin und Nestroypreis-Gewinnerin Miroslava Svolikova. In diesem Stück, das ein wenig an Ferdinand Raimund erinnert, muss eine weibliche Dreifaltigkeit feststellen, dass es mit der Erde nicht zum Besten bestellt ist. „Ich seh überhaupt nur Schmerz, wenn ich da hinunter schau.“ Gott piesackt daher die Menschen immer wieder mit Meteoriten, aber es findet kein Umdenken statt.
„Und dann tritt die Erde auf“, erzählt Anne Bader. „Sie klagt ihr Leid. Denn sie versteht nicht, warum die Menschen sie so schlecht behandeln.“ Irgendwann erhebt sich aus dem Publikum Jens, um mit einer flammenden Suada gegen die geplante Apokalypse zu protestieren. Gott gibt den Menschen schließlich doch noch eine Chance, den Planeten zu retten: „Das ist ein sehr humorvolles Stück – mit sehr viel Tiefgang.“
Dem brennenden Thema Klimawandel bleibt Anne Bader treu. Denn am 27. Jänner, zwei Tage vor der Wahl, hat am Landestheater Niederösterreich ihre Inszenierung von „Ein Volksfeind“ Premiere. Henrik Ibsens Drama, vor genau 140 Jahren geschrieben, hat an Brisanz enorm gewonnen: Stockmann, Badearzt in einem norwegischen Kurort, will ein Gutachten veröffentlichen, das die vermutete Versuchung des Wassers bestätigt. Die Stadtväter hingegen spielen den Umweltskandal runter, um den Tourismus nicht zu gefährden – und der aufrechte, auch sture Stockmann wird als Volksfeind diffamiert.
Der Klimawandel stelle unser größtes Problem dar, sagt Anne Bader. „Wir wissen seit Jahrzehnten, dass er menschengemacht ist, und sind dennoch nicht bereit, etwas zu ändern. Warum ist das so? Sind wir wirklich so egoistisch? Man kann daher nicht oft genug darüber reflektieren – und gemeinsam nach Lösungen suchen.“ Anne Bader ist Mutter von zwei Töchtern: „Auch aus diesem Grund ist der Klimawandel ein Thema, das mich wahnsinnig viel beschäftigt.“
Die Deutsche, geboren 1983 in Rinteln, lebte lange in Hamburg, ihr Partner, ein Österreicher, in Berlin. „Als ich vor sechs Jahren schwanger wurde, mussten wir uns auf einen gemeinsamen Lebensmittelpunkt einigen.“ Und der wurde Wien. Anne Bader schien die Stadt mit ihrem pulsierenden Kulturleben äußerst reizvoll, aber zunächst war sie etwas überfordert: „Ich musste die Mentalität erst einmal verstehen lernen.“
Auch das Fußfassen gelang nicht so einfach. Auf Anne Bader aufmerksam geworden ist man in St. Pölten aufgrund deren Arbeit am Schauspiel Frankfurt, wo sie u. a. „Ode“ von Thomas Melle inszenierte. „Ein Volksfeind“ ist nun ihre erste Arbeit hierzulande. Und es wäre natürlich schon gewesen, wenn die Premiere aufgrund der Pandemie nicht um ein Jahr hätte verschoben werden müssen. Denn auf den „Volksfeind“ kamen auch andere: Das Theater in der Josefstadt zeigt das Stück seit 22. September in einer Inszenierung von David Bösch.
Aber zumindest musste Anne Bader ihr Konzept nicht abändern. Obwohl mittlerweile die Klima-Aktivisten für gehörig Aufruhr sorgen. Denn: „Wir hatten schon vor einem Jahr ähnliche Ideen. Sie werden jetzt eben praktiziert und sichtbar.“ Auch wenn sich am Landestheater niemand an der Bühne festklebt: Es freut sie, dass die Umsetzung – „wir zeigen einen Prozess der Radikalisierung“ – tatsächlich am wunden Punkt der Zeit ist.
Anne Bader hat das Drama radikal gekürzt und Figuren eliminiert, um Stockmanns Tochter aufwerten zu können: „Mir ging es darum, dass die junge Generation einen Platz in dieser Kontroverse einnehmen kann. Petra symbolisiert ,Fridays for Future‘ oder ,Die letzte Generation‘.“ Deren Vater war, um das Kurbad realisieren zu können, Kompromisse eingegangen – zu Ungunsten der Natur. Tochter Petra stellt nun immer wieder fest, dass die Vögel weg sind: „Ich halte diese Stille nicht aus.“ Ihr sehnlichster Wunsch, einfach einmal gehört zu werden, werde schmerzhaft deutlich, sagt Anne Bader.
Sie hat den Konflikt zwar nicht nach St. Pölten verortet, aber Hinweise sollen deutlich zu lesen sein. Denn das Thema Klimawandel wird auch im Dialog mit einer Politikerin verhandelt. Dass Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner härtere Strafen für Klimaaktivisten fordert, kann die Regisseurin nicht verstehen: „Ich fordere härtere Strafen für alle an der Macht, die nichts tun.“
Und: „Ich würde mir mit Blick auf unser aller Zukunft wünschen, dass nicht permanent von Verzicht gesprochen wird. Denn es wird uns etwas geschenkt, wenn wir handeln und uns aktiv für den Klimaschutz einsetzen. Und zwar Zukunft. Eine lebenswertere Zukunft für alle – und nicht nur für einen kleinen Teil der Weltbevölkerung!“, sagt Anne Bader. „Eben das ist es, was mir in der Politik fehlt: eine klare Vision, eine Erzählung, die über den eigenen parteipolitischen Tellerrand hinausreicht und das große Ganze wieder mehr in den Blick nimmt!“
KURIER // Wien // 22.11.2022
Angesichts des Klimawandels: „Sind wir wirklich so egoistisch?“
Anne Bader. Die deutsche Regisseurin inszeniert Henrik Ibsens „Der Volksfeind“
von Thomas Trenkler
Henrik Ibsen schrieb „Der Volksfeind“ vor genau 140 Jahren – und das Stück hat seither an Brisanz enorm gewonnen: Stockmann, Badearzt in einem norwegischen Kurort, will ein Gutachten veröffentlichen, das die vermutete Versuchung des Wassers bestätigt. Die Stadtväter hingegen spielen den Umweltskandal runter – und der aufrechte, auch sture Stockmann wird als Volksfeind diffamiert. Er zieht den Schluss, dass die gesamte Gesellschaft vergiftet sei, da sie auf dem „Boden der Lüge ruht“.
Das Landestheater beauftragte Anne Bader mit der Inszenierung. Die Deutsche, geboren 1983 in Rinteln, hat in Hamburg studiert und arbeitet seit der Spielzeit 2015 als freie Regisseurin. Seit fünf Jahren lebt sie mit ihrem Mann und zwei Kindern in Wien. Auf sie aufmerksam geworden ist man in St. Pölten aber aufgrund ihrer Arbeit am Schauspiel Frankfurt, wo sie u. a. „Ode“ von Thomas Melle inszenierte. Mit „Der Volksfeind“ wird sie – pandemiebedingt ein Jahr verspätet – ihr Debüt in Österreich geben: Premiere ist am 27. Jänner 2023.
Überreden hätte man sie nicht müssen, sagt sie. Denn der Klimawandel stelle unser größtes Problem dar: „Wir treten noch immer auf der Stelle, Österreich belegt Platz 32 im internationalen Klimabilanz-Vergleich. Traurig, aber wahr. Wir wissen seit Jahrzehnten, dass der Klimawandel menschengemacht ist, und sind dennoch nicht bereit, etwas zu ändern. Warum ist das so? Sind wir wirklich so egoistisch? Dien Widerspruch zwischen ökologischer und ökonomischer Ratio sichtbar zu machen, finde ich interessant.“
„Der Volksfeind“ sei dafür ein „Super-Stoff“. Denn: „Ibsen schreibt zeitlose, kluge Dialoge, zeichnet starke Figuren und erzählt eine spannende Geschichte, die einen thrillerhaften Sog entwickelt“, sagt Bader. „Theater hat immer dann eine große Kraft, wenn es nicht nur um sich selbst kreist, sondern sich an gesellschaftspolitisch relevanten Themen abarbeitet. Wenn es viele betrifft. Wenn es uns betrifft. Wenn es Fragen stellt. Immer und immer wieder.“
Anne Bader verlegt die Handlung ins „Hier und Jetzt“, also nach Österreich und doch global gedacht. „Zudem versuchen, denen zuzuhören, die bisher zu wenig zu Wort kommen. Mit Blick auf die Zukunft ist das vor allem die junge Generation, die bei uns durch Stockmanns Tochter schallt. Ihr sehnlichster Wunsch, einfach mal gehört zu werden, wird schmerzhaft deutlich!“
Weitere Termine: 9. 2., 24. 2., 25. 2., 8. 3. und 29. 4.
ODE
Deutschlandfunk Kultur // 21.06.2021
Frankfurt spielt wieder! Thomas Melle: „Ode“ und Herbert Fritsch: „Der Theatermacher.“
von Cornelie Ueding
[…] Ganz anders Thomas Melles „Ode“, in der alles was schwerelos aufblitzt in Frage gestellt wird. War bei Thomas Bernhard eine provinzielle Bauernbühne der Schauplatz, so ist es hier ein imaginärer Kunstsalon. Mitten auf der Bühne schwebt ein transparenter, weißer Würfel aus Stoffbahnen, das jüngste Werk einer Künstlerin, dass sie mit vielen Worten erklärt, und ja, regelrecht feiert. Doch ein einziger Griff genügt und das ganze Gebilde fällt in sich zusammen und erweist sich als leer – ein Skandal. Die Kunstkritik des Autors ist überdeutlich, aber er will noch mehr und darüber streiten die jungen Schauspieler wortgewaltig und mit Vehemenz: Was soll, was muss, was kann Kultur leisten und wessen Interessen vertritt der Kulturbetrieb? Wen kann, sollte, will und müsste das Theater erreichen, falls überhaupt: „Wir zeigen hier den Tod des Theaters. Stellt euch das mal vor. Interessant, fühlt sich bekannt an, kann ja sein, kann ja passieren, dass diese Form einfach vorbei ist, und wieso denn auch nicht nach meinetwegen zweitausend, dreitausend Jahren. Die Abmachung, dass jemand jemanden spielt sie ist schlicht vorbei.“ (O-Ton von Orlando aus dem Stück) Für die im Kammertheater des Schauspiel Frankfurts mit Vehemenz ausgetragenen Diskussion ist die Regisseurin Anne Bader zuständig, die das kopflastige Stück geradezu zerlegt. Es geht um einiges. Im Vergleich zu Heute mutet Bernhard – aller raunzerei zum Trotz – nahezu nostalgisch an. Melle zeigt jetzt geht es ums Ganze: Diverstität, Identität, Gender. Wir alle stehen mitten in der Kampfzone der Ideologien, der Clash of Culture ist unser Alltag geworden, und erfasst auch den hermetischen Raum des Theaters. Manche Szenen sind stumme Bilder, in denen eine Schauspielerin mal allein, gelegentlich gedoubelt, manchmal sogar mehrfach gespiegelt, durch die Backstage-Katakomben des Theaters irrt. Dann wieder liefern sich die jungen Darsteller vehemente Diskussionen und da wird schon mal aus einer Ideologischen Debatte eine Schlägerei. Am Ende wird der Müll der bisherigen Performance, von einer bühnenbreiten, schwarzen Wand (weggeschoben kann man das kaum nennen) weggekerchert. Kein Lehrstück, nur eine Entleerung dieser Bühne, das heißt: Wir müssen neue Ansätze suchen, die Suche nicht aufgeben, denn eine endgültige Klärung welchen Weg Theaterkunst einschlagen könnte, sollte, müsste steht noch aus. Zwei komplementäre Abende die die Fragen nach Zukunft, Tradition und lustvoll artistischem Neubeginn zelebrieren.
Frankfurter Rundschau // 20.06.2021
Am liebsten gleich verbieten: Thomas Melles randvolle „Ode“, am Schauspiel Frankfurt wach und neugierig präsentiert, stellt dem gegenwärtigen Diskursniveau ein schlechtes Zeugnis aus.
von Judith von Sternburg
Thomas Melles „Ode“ wurde 2019 am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt, in einer Inszenierung von Lilja Rupprecht, deren „Malina“ hier in Frankfurt soeben Premiere hatte. Die Kunst ist auch ein Netz aus zu- oder sinnfälligen Zusammenhängen. Kunst, Kunstbetrieb, Kunstfreiheit und der oft leichtfertige und gelegentlich unterirdische Umgang damit sind Gegenstände des Textes. „Ode“ dokumentiert, dass das Diskurslastige vielleicht keine große Erzählung hervorbringt, aber doch einen schillernden Theaterabend ermöglichen kann. Bei aller scheinbaren Eindeutigkeit hält Melle seine Bälle in der Luft, Anne Baders Inszenierung in den Kammerspielen spielt mit.
Effektvoll ist, dass Melle in mehreren zeitlichen Portionen erzählt. In Teil eins, „Fratzer“, stellt eine coole Künstlerin, Anna Bardavelidze, ein Werk vor, das „Ode an die alten Täter“ heißt. Melle bringt hier einiges unter: Das unbegreifliche (unsichtbare) Kunstwerk selbst setzt unter den Vernissagegästen die gängige Interpretations(-geplapper-)apparatur in Gang. Zugleich gibt es eine politische Dimension: was, wie bitte, eine „Ode an die alten Täter“? Dazu kommt noch ein zurückliegender politischer „Fehltritt“ der Künstlerin, ein dummes Scherzwort.
All das ruft die „Wehr“ auf den Plan, Max Böttcher, munter und doch stumpfsinnig. Zwar trägt er ein durchscheinendes braunes Hemd, aber die „Wehr“ scheint insgesamt alles zu sein, was sich der Kunst in vernichtender Absicht entgegenstellt. Da sich das Publikum wegen der Scherzwort-Affäre entrüstet, hat die „Wehr“ Erfolg. Das Kunstwerk wird verboten. Fratzer erschießt sich.
In Teil zwei, „Orlando“, liegt der Skandal schon Jahre zurück. Fenna Benetz und John Sander erinnern in einer grellen Show an damals. Sie kokettieren penetrant mit dem Hakenkreuz-Symbol. Das Verklemmte im Schamlosen, die Lust am Verbotenen, das Dummheitspotenzial im noch so pfiffigen Showbiz: Auch hier kommt vieles zusammen, man schaut es interessiert an und fände es gerne abwegiger und realitätsferner, als es ist. Im Zentrum dann eine Theaterprobe, bei der der forsche Regisseur Orlando, Jonathan Lutz, die üblichen Grenzen austesten will – eine Schauspielerin soll sich nackt ausziehen, aber sie denkt nicht daran.
Während der betriebsinterne Diskurs kocht, taucht die „Wehr“ wieder auf. Sie wird vom nun wieder (weitgehend) einigen Kollektiv niederskandiert. Manchmal gibt es keinen anderen Weg. Allerdings geht Melle insgesamt schon scharf ins Gericht mit gegenwärtig vertrauten Kommunikationsformen zwischen Floskel und Wutausbruch, unterinformiertem Mitgerede und halbinformiertem Abwürgen. „Hassrede gemeldet“, eine sinnvolle Intervention, aber daraus ergibt sich natürlich kein Gespräch. Stattdessen bietet „Ode“ zwischendurch eine rustikale Betriebsbeschimpfung, bei der wir alle, nämlich auch die, die doch bloß zugucken wollen, auf die Mütze bekommen.
Im dritten Teil, „Präzisa“, gerät die allgegenwärtige, durchaus mysteriöse Präzisa, Vanessa Bärtsch, schwer unter Druck. Sie erweist sich aber – obwohl schon eine heuchlerische Trauergemeinde zusammengekommen ist – als nicht totzukriegen. Anzunehmen ist, dass sie die Kunst, hier: das Theater selbst ist, das sie darum zuvor in Videosequenzen (Simon Hegenberg) auch so vielfältig, nein, gar nicht vielfältig, sondern lediglich vervielfacht ausfüllt. Anne Bader lässt sie vom vorrückenden Vorhang mitsamt der Requisiten abräumen, aber das macht ihr nichts.
Melle verzichtet zum – etwas länglichen – Ende hin nicht auf einen Dreh ins Pathetische, aber der Titel „Ode“ wird von einem formbewussten Autor eben auch nicht beliebig gewählt.
„Ode“ und die Regie haben nichts dagegen, zugleich umständlich mystifizierend und offensichtlich zu sein. Dazu passen die Kostüme von Ausstatterin Sylvia Rieger, die die Körper bis auf die Unterwäsche durchscheinen lassen, was aber eigentlich auch nichts weiter sagt oder zeigt. Dazu passt ebenso das Spiel, zu dem auch Nina Plagens, Sabah Qalo und Nora Solcher gehören und das anderthalb Stunden lang auf Draht ist. Aus einem individualistischen „Chor“ lösen sich die einzelnen Rollen. Dass das Ensemble zum Studiojahr Schauspiel gehört, gibt dem Blick nach innen den besonderen Dreh des Einstiegs, der frischen Kritik und zugleich der Bewährungsprobe. Falls man sich hier bewähren muss, was zu befürchten ist. Hier wird sie bestanden. Mag die Kunst unter steter Erschießungsgefahr stehen (und sei es die Erschießung durch angelegte Regenschirme), sie zeigt sich fit und neugierig.
PENTHESILEA
Badische Neueste Nachrichten // 10.02.2020
Dilemma von Liebenden. Die Karlsruher „Penthesilea“-Inszenierung erzählt nicht vom verzehrenden Wahnsinn einer verbotenen Liebe, sondern konzentriert sich auf das Dilemma von Liebenden.
Von Andreas Jüttner
Wortgefechte statt Raserei. Unaufdringlich und suggestiv: Anne Bader zivilisiert Kleists „Penthesilea“ in Karlsruhe
Heinrich von Kleists „Penthesilea“ ohne das einzige bekannte Zitat aus diesem Text, nämlich „Küsse, Bisse, das reimt sich“? Das wirkt wie Romeo und Julia ohne Nachtigall und Faust ohne des Pudels Kern. Doch der Verzicht auf diesen Satz ist stimmig in Anne Baders Karlsruher Inszenierung des selten gespielten Versdramas. Denn die Aufführung im Studio des Badischen Staatstheaters erzählt nicht vom verzehrenden Wahnsinn einer verbotenen Liebe, den Kleists Text obsessiv ausschmückt (Goethe hatte seine liebe Not, das Stück halbwegs diplomatisch abzulehnen). Sondern sie konzentriert sich auf ein anderes Kernmotiv des Textes: das Dilemma von Liebenden, nie frei von den Einflüssen ihrer Umgebung zu sein.
Das 1808 erschienene, aber erst 1876 uraufgeführte Trauerspiel beruht auf einer Episode aus der griechischen Mythologie und handelt vom Konflikt zweier Liebender, die sich jeweils im Gegenüber wieder erkennen und sich doch zu zwei gegnerischen Lagern zugehörig fühlen: Achill ist einer der griechischen Kämpfer im Trojanischen Krieg. Penthesilea führt als Königin die Amazonen an, die sich in diesen Krieg einmischen, um Männer zum Zweck der Fortpflanzung zu erobern. Doch Penthesilea bricht die Regeln ihres Volkes, indem sie nicht irgendeinen Mann besiegen will, sondern Achill. Dieser wiederum entflammt derart für sie, dass er ihr trotz seines Sieges vorspielt, unterlegen zu sein, um an ihrer Seite bleiben zu können. Für einen Moment scheint ihre gegenseitige Liebe möglich. Doch als die Täuschung auffliegt, stürzt Penthesilea derart in Raserei, dass sie Achills Angebot eines erneuten Zweikampfs, den er sie gewinnen lassen will, missversteht und den Geliebten nicht nur tötet, sondern wahrhaftig zerfleischt.
Während Kleist neben den Hauptfiguren etliche Griechen und Amazonen zu Wort kommen lässt, konzentriert sich die nur 75 Minuten dauernde Aufführung ganz auf Achill und Penthesilea. Diese treten hier nicht als Kontrahenten mit Schwert und Lanze auf, sondern als Paar, das um die Deutungshoheit über die gemeinsame Geschichte ringt. Die Textfassung (Dramaturgie: Sonja Walter) arrangiert die von Ausrufen und Widerrede durchzogenen Botenberichte und Mauerschauen des Originals bemerkenswert schlüssig zum Wortgefecht um. Diese zivilisatorische Domestizierung des archaischen Geschehens wird unterstrichen durch die Bühne und die Kostüme von Sylvia Rieger: Anfangs treten sich Claudia Hübschmann (Penthesilea) und Achill (Jannek Petri) wie zwei Sportler, die sich nur durch ihre Trikotfarbe unterscheiden, vor den Spinden einer Umkleidekabine gegenüber. Achill trägt violett und Penthesilea türkis – das immerhin passt, denn das vermeintliche Modethema Genderfluidität wurde schon früh bei Kleist gesehen. „Beide sind Mann und Weib in einem (…) wie in jeder vollen Menschenseele sich beide geschlechtlichen Sonderungen verbinden“, deutete Germanist Friedrich Gundolf 1922 Achill und Penthesilea als zwei Pole des Autors Kleist. Die Ähnlichkeit der beiden wird weiter betont, als sie für die Liebesszene beide in schwarze Abendkleidung wechseln.
Dieser Look wiederum entspricht dem Herunterdimmen des emotionalen Extremismus von Kleists Protagonisten auf Konversationsebene. Wobei die wahre Herausforderung für heutige Zuschauer ohnehin eher in mythologisch durchtränkten Blankverse à la „Am Ufer des Skamandros hören wir, / Deiphobus auch, der Priamide sei / Aus Ilium mit einer Schar gezogen“ liegen dürfte. Claudia Hübschmann und Jannek Petri meistern diese Hürde und machen die komplexe Beziehung zwischen ihren Figuren durchaus verständlich. Mit unaufdringlicher Vielseitigkeit zeigt Hübschmann viele Facetten, von mädchenhafter Freude über Angriffslust und Begierde bis zum entschlossenen Ausbruch aus den bisherigen Lebensregeln, die ihr das Liebesglück zerstört haben: Die Aufführung endet mit ihrem Satz „Ich sage vom Gesetz der Fraun mich los“, nicht mit dem Selbstmord Penthesileas.
Beim Versuch, mit Kleists radikalem Text über die Überwindbarkeit gesellschaftlicher Prägungen nachzudenken, lässt Anne Baders Inszenierung zwar viele Aspekte des Stücks außen vor, verzichtet aber dankenswerterweise auch auf effektheischende Zutaten. Der Abend bleibt auf unspektakuläre Weise suggestiv, auch dank des Soundtracks von Matthias Schubert, der die Verunsicherung der Figuren, ob das Geschehen real ist oder nur ein Traum, auf den Zuschauer überträgt.
DER KLEINE KÖNIG DEZEMBER
Berliner Zeitung // 6.11.2019
Ein Schrank voller Träume: „Der kleine König Dezember“ im DT
von Ulrich Seidler
Das ist auch so ein Theaterwunder, auf das man mehr vertrauen darf: Dass man sich nicht nur auf das Geschlecht und die Hautfarbe, überhaupt das Aussehen, sondern auch die Größe eines Schauspielers ganz schnell einfach zurechtgucken kann, wie es eine Geschichte braucht. „Der kleine König Dezember“ soll ja bekanntlich ungefähr so lang sein, wie der Zeigefinger des namenlosen büroangestellten Erzählers, hinter dessen Bücherregal der Minikönig eines Tages hervorkommt. In der diesjährigen vorweihnachtlichen Familieninszenierung des Deutschen Theaters reicht der Monarch, gespielt von Lisa Hrdina, dem melancholischen Insbürogeher (Simon Brusis) bis zur Schulter. Das würde es streng genommen ein bisschen unbequem machen, den König in der Manteltasche mitzunehmen, um ihm die Welt zu zeigen. Aber im Theater, wenn man es so pur und direkt wirken lässt wie die Regisseurin Anne Bader, ist das Weltzeigen kein Problem.
Prinzipiell funktioniert der kleine König – in dessen Land man groß und gescheit auf die Welt kommt und im Lauf der Zeit schrumpft und alles vergisst, bis man nicht mehr zu sehen ist – wie ein Theatergegenüber, das man sich notfalls selbst erfinden sollte: Der Insbürogeher bekommt durch den Besuch Gelegenheit, neu auf sein übersichtliches Leben zu blicken und sofort tun sich lauter Wunder auf. Das ist in dem Kinderbuchklassiker von Axel Hacke bei aller philosophisch poetischer Lebensbejahung auch ein bisschen betulich und onkelhaft, zumal der an allem herumkorrigierende, alles hinterfragende Schlaumeier einem schnell auf die Nerven gehen würde. Aber in der Gestalt von Lisa Hrdina wird der König zu einem echten Freund. Wie er sich in ansteckend triumphale Posen wirft, fast gefährliche Abenteuer- und Feierlaune versprüht und wie er den Brillenträger angreift, wenn er zu verzagen droht. Das sitzt bei Hrdina genau und kommt doch aus reinstem Kinderherzen.
Die Bühne (Olaf Grambow) besteht im Wesentlichen aus einem drehbaren Schrank mit vielen Fächern, in denen der König Träume sammelt. Mit Licht- und Toneffekten, vor allem aber durch die Reaktionen der beiden Spieler entfalten diese Träume im Handumdrehen wirklichkeitsausknipsende Kraft. Auf einmal donnert und blitzt es, dann wohnen wir einem Duell von Westernhelden bei, und einmal lässt ein Drache seinen Schuppenschwanz ins Bild hängen. Sobald aus Traum Ernst zu werden droht, schiebt der eben noch selbst panische König lächelnd die Schublade zu, und wir befinden uns wieder im Saal des Deutschen Theaters, in dem beim Schlussapplaus Jubel ausbricht.
MINNA VON BARNHELM
Saarländische Nachrichten // 19. Mai 2019
In einem Taubenschlag voller tougher Weiber. Am Saarländischen Staatstheater gelingt Anne Bader eine fabelhafte, zeitgenössische Version von Lessings Lustspiel „Minna von Barnhelm“.
von Kerstin Krämer
Saarbrücken. Hat man Lessings „Minna von Barnhelm“ je so frisch und frech gesehen? Als rasantes Lustspiel, das die Lust durch erotische Überladung doppelt wörtlich nimmt? Mit starken Frauenfiguren, die machen, was sie wollen, und sich nehmen, wen sie wollen? Das unmittelbar nach dem Siebenjährigen Krieg entstandene Stück ist, wie es im ironischen Untertitel „Oder das Soldatenglück“ durchschimmert, auch ein Nachkriegsdrama – hier wird es als kesse Emanzipationskomödie zum guten Ende geführt. Oder doch nicht? Ganz am Schluss verdunkelt sich die Szenerie; ob Minna und ihr Major von Tellheim sich kriegen, bleibt offen. Aber bis dahin hat sie ihn ordentlich zur Minna gemacht. Und vielleicht wollen beide ihr Katz- und Mausspiel und die Freude am geschliffenen Rededuell ja bis in alle Ewigkeit fortsetzen, wer weiß?
Baders Inszenierung mag, zumindest anfangs, manchen visuell frustriert haben, denn hier tobt zunächst alles andere als eine Ausstattungsorgie. Auch an den (zwischen nüchtern, pastellig, knallig und symbolhaft changierenden) Kostümen von Luisa Wandschneider schieden sich die Geister. Statt in einem kommoden Wirtshaus versucht Minna ihren ehrverblendeten Verlobten Tellheim hier in einem nüchternen, abstrakt unmöblierten Bunker (Bühnenbild: Sylvia Rieger) zur Räson zu bringen. Ein höchst ungastlicher Herbergsraum, der in seiner Reflexion seelischer Verödung zugleich Szenerie für ein geradezu boulevardeskes Treiben wird: Tür auf, Tür zu, hohes Tempo – hier geht’s zu wie im Taubenschlag. Alles konzentriert sich auf die Sprache und die Figuren. Was dadurch mit Lessings Wortkunst passiert, ist wunderbar: Sie tritt wuchtig und lebendig in den Vordergrund und wirkt so funkelnd heutig, dass manche wähnten, Bader habe den Text gar umgeschrieben statt nur gekürzt. Nein, das ist original Lessing. Auch Minnas Frage „Was ist das? Will das zu uns?“ – hier auf den im Gala-Glitzerjäckchen wahrlich fragwürdig aussehenden Chevalier Riccaut de la Marlinière (Bernd Geiling) gemünzt und als Chargen-Gag belacht.
Dass Lessing hier so zeitgenössisch tönt, liegt natürlich auch am Spiel, das Bader mit reichlich Situationskomik und Slapstick unterfüttern, ja konterkarieren lässt und dadurch neue Interpretationsebenen frei kitzelt. Die Kerls neigen zum Stammeln, ihre Verklemmungen äußern sich in körperlichen Begrenzungen. Da wird mit Distanz und ohne Blickkontakt frontal ins Publikum gesprochen; Annäherung und Interaktion finden erst unter wachsendem weiblichem Einfluss statt. Tellheim, aus dessen Beamtensteifigkeit Thorsten Köhler zunehmend ausbricht, hinkt; sein rechter Arm ist gelähmt. Und Just, Tellheims Diener (ein gefundenes Fressen für ein komisches Talent wie Philipp Weigand), windet sich gar in verkrampften Zuckungen und kippt ins Fisteltimbre, wenn man ihm zu nahe kommt. Das tut Frau Wirtin (Martina Struppek) ziemlich heftig: Aus Lessings männlicher Wirtsperson hat Bader eine verluderte Herbergsmutter gemacht, ein weiteres toughes Weib also, dessen offensiver Balz Just wie ein kleiner Junge hilflos ausgeliefert ist. Dagegen haben alle Mädels weder Berührungsängste untereinander noch Hemmungen, ihre sexuellen Bedürfnisse zu artikulieren. Franziska, Minnas Kaugummi knatschende Kammerzofe, von Anne Rieckhof kess schnippisch verkörpert, strippt Tellheims wehrlosen Wachtmeister Paul Werner (stark: Ali Berber) mitten im Gespräch einfach blank – mitsamt glitzerstäubender Unterhose. Aber was ein rechter Soldat ist, der steht auch nackig stramm.
Trotz der Bloßstellung bewahrt sich dieser Werner, obwohl er wie eine schmierige, halbseidene Vertretertype aus den 70-er Jahren daher kommt, enorme Würde. Genauso Just: Beide sind Tellheim in unverbrüchlicher Treue, Achtung und Freundschaft ergeben und diesem somit überlegen. Denn Tellheim macht seinen Selbstwert von körperlicher Unversehrtheit, Besitz und untadeligem Ruf abhängig. All das ist ihm im Krieg abhanden gekommen, so dass die resolute Minna (nuanciert leise bis brüllfreudig: Lisa Schwindling) sich selbst erniedrigt, damit er sich als ihr Retter rehabilitieren kann. Im signalroten Jumpsuit hat Minna also die Hosen an und fantasiert doch vor sich hin, indem sie einen – mehr und mehr realer werdenden – utopischen Sehnsuchtsort ihrer Träume imaginiert. Da tut sich hinter dem Bunker, zunächst durch eine Gazewand verklärt, ein romantischer Wald mit deutschem Nachkriegs-Heimatfilm-Kitsch auf. Hier streift ihr Tellheim als schmucker Förster umher, bringt ihr mit Hildegard Knefs „Für Dich soll‘s rote Rosen regnen“ ein Ständchen und gibt im testosterongetränkten Schweiße seines Feinripp-Unterhemds den virilen Holzhacker, was Minna animalische Brunftschreie entlockt. Dieser märchenhaft schöne Illusionsraum schluckt jedoch Klang, was dazu führt, dass die Schauspieler, die ohne Mikroports agieren, ab etwa der siebten Parkettreihe oft nicht mehr gut verständlich waren – schade.
ANTIGONE
Hamburger Abendblatt // 14. Oktober 2018
Anne Bader erzählt Sophokles Tragödie als starken Pop-Albtraum im Jungen Schauspielhaus. Unbedingt sehenswert.
von Annette Stiekele
Hamburg. Mit im Wind fliegenden rosafarbenen Punk-Haaren wirft sich Antigone vor das offene Grab ihres Bruders Polyneikes. Und schreit. Elektronische Musik wummert. Hinter ihr blinkt die karge mit einem Sternenmeer leuchtende Bühnenwand. Dies ist nur eines von vielen starken Bildern, die Anne Bader gefunden hat, um die „Antigone“ des Sophokles für Menschen ab 14 Jahren im Jungen Schauspielhaus auf die Bühne zu bringen.
Von Anfang an ist das ein ehrgeiziges Unterfangen. Denn „Antigone“ ist kein handlicher Jugendroman, sondern ein monumentales Antikenwerk. Und siehe da: Der Regisseurin ist mit dem großen Ensemblestück vielleicht die bisher künstlerisch ambitionierteste Arbeit des Jungen Schauspielhauses geglückt. Sie nutzt die gesamte Palette der Theatermittel, um den Stoff in der konzentrierten Übersetzung von Peter Krumme düster und zugleich sehr lebendig zu erzählen.
Atemlose Inszenierung
Einen Stoff, der im Kern von der Gewaltherrschaft eines sich für allmächtig haltenden Tyrannen erzählt. Erstaunlich aktuell in Zeiten, in denen vielfach in der Welt wieder die Stunde der Autokraten zu schlagen scheint. Die junge Regisseurin, die unter anderem „Krieg – Stell dir vor er wäre hier“ inszenierte, macht aus „Antigone“ einen ästhetisch faszinierenden New Wave-(Alb-) Traum.
Als Trommel schlagende Heldin steht Katherina Sattler eingangs auf der Bühne; mit einem Blick zwischen Kampflust und Milde. Aus dem Off steuern ihre Mitspieler die Rahmenhandlung bei. Die ist hinlänglich bekannt: Beide Brüder von Antigone sind im Krieg gefallen, doch während Eteokles ein ordentliches Begräbnis erhält, will Kreon, König von Theben, dieses ihrem Bruder Polyneikes verwehren, da der den Aufstand anführte. Im Hintergrund schwingt die ganze unheilvolle Geschichte des Herrschergeschlechtes von Theben mit. Von König Laios, der nach einem Fehltritt unwissentlich von seinem Sohn Ödipus erschlagen wurde.
Von Ödipus, der – ebenso unwissentlich – seine Mutter Iokaste ehelichte und mit ihr vier Kinder bekam, die Töchter Antigone und Ismene und die Söhne Eteokles und Polyneikes. Nach dem Tod der Eltern wachsen die Kinder bei Kreon auf. Zwischen den Söhnen entwickelt sich ein Streit um die Vorherrschaft. Schließlich töten sich die Brüder vor den Toren Thebens gegenseitig. Kreon ergreift die Macht. Eteokles, der die Stadt verteidigte, erhält das ordentliche Begräbnis, während Polyneikes der Einzug ins Totenreich verwehrt bleibt.
Grandios nun, wie nach wenigen Minuten dieser atemlosen knapp 100 Minuten langen Inszenierung eine massive Wand (Bühnenbild: Katrin Plötzky) zum Einsturz gebracht wird. Stehen bleibt noch die ebenso großflächige Lichterwand. Und am Boden liegt der, um den es hier geht. Polyneikes – Philipp Kronenberg verschafft ihm als stummer, filigraner, schwarz gewandeter Tänzer eine eindringliche körperliche Präsenz. Matthias Schubert unterstreicht die Dramatik dieser Szene mit einer dunklen elektronischen Tonspur aus Piano, Trommeln, Elektronik.
Ein Bild, das sich einbrennt
Auch dieses Bild brennt sich ein: Wie Antigone den Bruder des Nachts symbolisch mit schwarzen Federn bedeckt. Anhand der Antigone-Figur erzählt Anne Bader von der Zerrissenheit einer jungen Frau, die aufgerieben wird zwischen dem Gesetz des Alleinherrschers und dem eigenen moralischen Kompass. Die damit zugleich ihre Grenze als Frau, die sich unterzuordnen habe, überschreitet. Katherina Sattler verkörpert diesen Zwiespalt, der für sie nur eine Handlungsmöglichkeit zulässt, in aller Zerrissenheit.
Mitunter scheint Sattler dem strengen, formalen Konzept nicht zu trauen, spricht ihre Sätze fast gutgläubig. Dann wieder gelingen ihr sehr entschiedene Momente. Wenn sie sich mit der von Sophia Vogel präzise gezeichneten, gesetzestreuen Schwester Ismene berät etwa. Die Zeit sei länger, die sie den Unteren gefallen müsse, als denen hier, denn dort liege sie ja für immer, sagt Antigone und zeigt Haltung gegen Ausgrenzung: „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich geboren.“
Unbedingt sehenswert
Gekonnt setzt Anne Bader auch auf das antike Element des Chores, der das Geschehen aus dem Off kommentiert. Hier reihen sich Sophia Vogel, Gabriel Kähler, Christine Ochsenhofer und Sergej Gößner am Mikrofon wie zu einer Radioshow auf. Fallen sogar in eine Rap-artige Spoken-Word-Darbietung. Es ist der souveräne Umgang mit performativen Mitteln wie Tanz, Musik und Sprache, der diese Inszenierung auch für junge Zuschauer zu einem unmittelbaren Erlebnis machen dürfte.
Die Geschichte geht bekanntlich nicht gut aus. Antigone steht zu ihrer Tat, das ungeschriebene Gesetz des Unterweltgottes anführend. Kreon bringt ihr nicht den erleichternden Tod, sondern sperrt sie, zum Leben verdammt, in ein Felsverlies.
Anne Bader zeigt die Begegnungen der allesamt von Luisa Wandschneider schwarz eingekleideten und streng frisierten Protagonisten wie unter einem Brennglas. Etwa in der Szene, in der Hermann Books Kreon sich mit seinem von Gabriel Kähler gespielten Sohn Haimon, Antigones Verlobtem, auseinandersetzt. Oder als Sophie Vogels Ismene die Strafe mit Antigone teilen will, aber von ihr brüsk abgewiesen wird.
Kreon büßt für seine Hybris. Diesen mit Leichen gepflasterten Schluss erzählen die Regisseurin und ihr vorzügliches Team verkürzt, aber eben doch so lang wie nötig. Zurück bleibt eine wachgerüttelte, emanzipierte Ismene, die die Trommel ihrer toten Schwester entschlossen in die Hand nimmt. Unbedingt sehenswert.
Die Wiedervereinigung der beiden Koreas
Nachtkritik // 29. April 2018
Die Wiedervereinigung der beiden Koreas – Anne Bader bewegt mit Joël Pommerat am Theater Münster
von Sascha Westphal
Münster, 28. April 2018. Alle Blicke richten sich auf die Dame mittleren Alters, die ganz alleine mitten auf der großen Bühne steht. Sie will sich scheiden lassen, endlich soll Schluss sein mit einem Leben, in dem sich alles wie gedämpft anfühlt, das ohne Liebe und damit ohne jedes Gefühl ist. Mit jeder weiteren Frage, die ihr die übrigen neun Ensemblemitglieder aus dem Zuschauerraum heraus stellen, gibt die von Carola von Seckendorff gespielte Noch-Ehefrau mehr von ihrem emotionalen Elend preis. Auf jede der mal ungläubig und mal mitfühlend, mal herablassend und mal desinteressiert klingenden Fragen antwortet sie in dem gleichen apathischen Tonfall. Ihrer leidenschaftslosen Ehe mag sie entkommen, obwohl auch das nicht wirklich sicher ist. Ihrem trostlosen Leben wird sie nicht entrinnen.
Szenen des Scheiterns
„La Divorce / Bergman“, der ersten Szene von Joël Pommerats 20-teiligen Bühnenreigen „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“, deutet schon die Doppelstrategie des französischen Erfolgsdramatikers und Theatermachers an. Triviales vermischt sich ständig mit Tiefgründigem, Absurdes mit Tragischem. Pommerats skizzenhafte Miniaturen wollen immer beides sein, Boulevard und Bergman, und fallen damit ein ums andere Mal zwischen alle Stühle.
Es ist also nur konsequent, dass Anne Bader in ihrer Inszenierung dieses doch eher überambitionierten Konglomerats von meist scheiternden Liebesszenen sich nicht vor dem schwedischen Regisseur verbeugt und auch auf allzu boulevardeske Komik verzichtet. Bei ihr ist alles Spiel, vor allem die Liebe. Schließlich berauschen sich Liebende gerne an großen, pathetischen Gesten und wirken dabei doch nur wie Clowns, die um die Vergeblichkeit ihres Treibens wissen.
Melancholische Komik
Carola von Seckendorffs Lamento über ein Leben ohne Liebe wird in Sylvia Riegers ausgesucht trister Gemeindesaal-Kulisse, die an Anna Viebrocks Bühnenbilder für Christoph Marthaler erinnert, zu einer Art Shownummer. Sie inszeniert sich selbst vor den anderen, deren nachbohrende Fragen ihr durchaus willkommen sind. So verliert diese Szene ihre letztlich nur behauptete existentialistische Schwere. Sie weicht einer melancholischen Komik, die das Dramatische leicht und das Lächerliche ernst nimmt. Dementsprechend stecken Sandra Bezler und Andrea Spicher als lesbisches Liebespaar, das in der nächsten Szene auf ein blutiges Beziehungsdrama zutreibt, in Hasenkostümen. Andrea Spichers Forderung nach dem „Teil von mir, das in dir ist“, wirkt eher absurd als bedrohlich.
Anne Bader nimmt Pommerats Figuren das Pathologische und bringt sie einem so deutlich näher. Aus Verrückten werden verschrobene Gestalten, deren pathetisches Auftreten etwas Rührendes hat. Gleich darauf spielen Joachim Foerster und Christian Bo Salle die Szene in einem enormen Tempo noch einmal durch, nur um sich am Ende leidenschaftlich zu küssen. Was wäre die Liebe ohne ein wenig Drama?
Überraschende Schärfe
Während Pommerat seine Szenen einfach aneinanderreiht, sucht Anne Bader nach Verknüpfungen. Die einzelnen Episoden gleiten nicht nur elegant ineinander über. Sie bekommen durch das Gemeindesaal-Setting auch einen gemeinsamen Raum. Ilja Harjes verwandelt sich vom verlassenen Bräutigam in einen E-Gitarre spielenden Alleinunterhalter, der mit Songs wie „Love Me Tender“, „Perfect Day“ und „Wicked Game“ das Geschehen kommentiert. So folgt auf seine Version von Chris Isaaks Song natürlich Pommerats Hommage an Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“.
Ein von Gerhard Mohr und Regine Andratschke verkörpertes Paar spielt mit Sandra Betzlers Babysitterin ein wahrhaft böses Spiel. Sie werfen der finanziell von ihnen abhängigen Frau vor, dass sie ihnen ihre Kinder gestohlen hätte, obwohl die beiden nie Kinder hatten. Pommerats an sich ziemlich selbstgefällige Meta-Spielerei bekommt plötzlich eine überraschende Schärfe. Bader und ihrem Ensemble gelingt dabei eine bemerkenswerte Gratwanderung. Auf der einen Seite entlarven sie gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse, auf der anderen zeigen sie Verzweifelte, die, wollen sie nicht endgültig in der großen Leere ihrer Existenz versinken, mit ihrem bösen Spiel nicht aufhören können.
Großes Vergnügen
Pommerats Szenen sind in der Mehrzahl kalkuliert und damit zynisch. Aber zugleich sind sie Werke eines absoluten Theaterprofis, der genau weiß, wie er Schauspielerinnen und Schauspielern zu großen Auftritten verhelfen kann. Und genau das macht sich Anne Bader zu Nutze. Ihre ganz und gar unzynische Inszenierung eröffnet ihrem Ensemble sogar noch einen größeren Spielraum. Die clowneske Melancholie der Szenen des Abends setzt eine ungeheuere Spielfreude frei.
Es ist ein Vergnügen der von Sandra Bezler gespielten Braut, die erfahren muss, dass ihr Zukünftiger mit all ihren vier Schwestern geflirtet hat, zuzusehen, wie sie ihre Hochzeitstorte nach und nach zerstört. Mit jedem Stück, das sie nimmt und doch nicht zu Ende isst, befreit sie sich etwas mehr aus ihrer misslichen Lage. Nicht sie ist lächerlich, sondern die Konventionen, denen sie sich bisher unterworfen hatte. Liebe mag eine Täuschung sein, wie es der Arzt behauptet, der eine behinderte Frau dazu bringen will, ihr Kind abzutreiben. Doch gerade diese von Andrea Spicher grandios verkörperte junge Frau gibt einem Hoffnung. Ihr durch nichts zu brechender Glaube an eine alle Widrigkeiten überwindende Liebe ist ansteckend.
TEXTIL-TRILOGIE:
MAN MUSS DANKBAR SEIN / IHR KÖNNT FROH SEIN / WIR SIND GLÜCKLICH
Nürnberger Zeitung // 16. Oktober 2017
Der dreifache Abstieg. Textil-Trilogie: Man muss dankbar sein / Ihr könnt froh sein / Wir sind glücklich (UA) von Volker Schmidt
von Wolf Ebersberger
Starker Tobak, attraktiv verpackt: Volker Schmidts nun in Nürnberg vollendete „Textil-Trilogie“ verfolgt das Schicksal dreier Näherinnen. Erst Lohnsklaven, dann Flüchtlinge, bald Nüttchen in Fernost. Das Ganze hat aber einen raffinierten Dreh – und trotz manch krassem Aspekt auch reichlich Wortwitz. Nach der Premiere in den Kammer-spielen gab es starken Beifall.
Bei „Hanni und Nanni“ war die Welt noch in Ordnung. Bei Hanni, Kathy und Liesl steht sie längst Kopf. Da geht es ans Eingemachte. Drei Mädchen ticken nur noch als Rädchen – perfekt eingepasst ins pausenlose Produktionsgefüge der Textilwirtschaft. Jeder Tag ist Werktag, also nicht jammern, sondern tapfer an die Arbeit, Marsch! Muss man nicht schon dankbar sein dafür, dass man lebt? Manchmal kommen den drei bis ins Mark ausgebeutete Fabriknäherinnen Zweifel, ob dies überhaupt noch der Fall ist…
„Man muss dankbar sein“ hat Volker Schmidt den ersten Teil seiner Trilogie genannt, und nicht nur im Titel steckt bitter beißende Ironie. Was der Wiener Autor in seinen Stücken beschreibt, ist in Ländern wie Indien oder Bangladesch akute Wirklichkeit – er aber verhandelt es in Form einer unmerklich in die Zukunft gesetzten Satire: Hier, im guten alten Europa, werden die Arbeiter nun mit Billiglöhnen versklavt, während der asiatische Markt zur führenden Industriemacht angewachsen ist. Die Folgen der Globalisierung – eine Groteske. Und jetzt ist auch noch Besuch aus Fernost da. NGOs, Vertreter von engagierten Nichtregierungsorganisationen, wollen überprüfen, unter welchen Bedingungen die europäischen Kräfte inzwischen eingesetzt sind. Liesl (Lilly Gropper) huscht über die Bühne, in knallgrüner Fantasietracht, mit Glockenrock und blümchengeschmückter Zopfperücke, so, wie es die Firmenleitung will. Gleich geht es los, zirpt sie nervös ins Publikum: „Ich bin nur der Prolog.“ Liesl kommt auch sonst immer als erstes in die Halle, damit sie noch etwas Ruhe hat und den Staub im Licht tanzen sieht. Leise ertönt von hinten ein Walzer, Liesl wiegt sich sanft im Takt, Ihr größter Traum: einmal zum Opernball! Da kann sie nur den in Wien meinen, oder?
Aus dem breiten Schrank im Hintergrund quellen bunt die Klamotten und Stoffe. Schöne neue Welt – für alle, die sich es leisten können. An Ressourcen herrscht noch kein Mangel, an verwertbaren Körpern auch nicht. Liesl ha ja schon schlimmeres hinter sich: den Kinderstrich…
Oh je. Das könnte platt sein, Agitprop – und nur pathetisch hausieren gehen. Aber die junge Regisseurin Anne Bader und ihre Bühnen- und Kostümbildnerin Luisa Wandschneider – schon bei „Und dann kam Mirna“ in der letzten Saison ein Erfolgsteam – nehmen die Vorlage leicht, binden auch drastische Momente ein in eine dralle Melange, die tragikomisch das Gleichgewicht hält, voll szenischer Fantasie und Spielfreude.
Dabei hat jeder der Rollen ihr ganz eigenes Profil. Neben der Mädchenhaft zarten Lilly Gropper gibt Ruth Macke eine kernig-kraftvolle Kathi, deren einzige Schwäche ihr kleiner Sohn ist, für den sie keine Zeit mehr hat. Die Rebellin im Dreierbund ist dagegen Sevetlana Belesova als selbstbewusst kämpferische Hanni: ein markantes neues Gesicht am Haus, nicht nur durch die Glatze der ausdrucksstarken Schauspielerin, die am Anfang in Unterwäsche schläfrig aus dem Schrank purzelt. Ein Geschenk für Nürnberg.
Die Mischung gärt, sobald die drei Mädels gemeinsam den Ausstieg wagen und davonlaufen. „Ihr könnt froh sein“, der zweite Teil, zeigt sie als Elendsflüchtlinge, die vor den Toren der reichen Welt gestrandet sind. Die bewaffnete Hanni hat bereits einen Wächter gekillt, siehe seinen Kopf, aber noch bleibt die Wand zum besseren Leben – wie bei Marlen Haushofer – eine undurchsichtige Hürde.
Es wird dann auch nicht besser: „Wir sind glücklich“, der nun uraufgeführte letzte Teil der Trilogie, führt in rosa Peepshowkabinen, in Prostituion und Putzjob. Neue, noch tiefere Abhängigkeit, immerhin für Liesl eine Art Erfüllung. Luxushure von Ministern – fast wie beim Opernball.
Erst ganz zum Schluss, als epische Bilanz, lässt Volker Schmidt so etwas wie Selbsterkenntnis und das Bewusstsein anklingen, dass alles kausal zusammenhängt, in einer brilliant geschliffenen Sprache zwischen Brecht und Jelinek, witzig und böse. „Das Leben ist kein Schaumbad“, heißt es einmal – man muss stehend duschen.
Die Deutsche Bühne // 15. Oktober 2017
Dankbar, froh und glücklich – irgendwie
Natürlich hätte man das dreiteilige Stück im Blick auf das dicke, zumindest dick auftragende Ende mit dem Gleichstellungs-Kick vom „Leiharbeiter“ zum „geliehenen Leben“ oder dem zynischen Werbespot „Angstfrei leben, jetzt günstig möglich“ auch „Parolen-Triptychon“ nennen können. Die geflügelten Titel der zögerlich über zehn Jahre hinweg zusammengewachsenen dreifältigen Story von der Weltwirtschaft im dichterischen Behauptungs-Kopfstand sind ja allesamt Appelle von geradezu religiös inbrünstigem Befehls-Optimismus. „Man muss dankbar sein“ steht über dem ersten Drittel von Volker Schmidts Text, das schon 2007 in Wien Uraufführung hatte. Der dominierende Abgesang, ein Auftragswerk aus (und somit eine eigene Uraufführung für) Nürnberg, bilanziert „Wir sind glücklich“. Dazwischen, in deutscher Erstaufführung immerhin, die stimmungsaufhellende Anordnung „Ihr könnt froh sein“. Dankbar, froh und glücklich! Kann man da beitreten?
Es geht um die Schicksalsgemeinschaft von drei Näherinnen in einer Billiglohnfabrik, und sie hören wunderlicherweise auf halbwegs unexotische Namen wie Liesl, Kathi und Hanni. In der zähnefletschend grinsenden Versuchsanordnung des Autors sind die scheinbar eisernen Zivilisationsregeln von Arm und Reich in Nord und Süd vom Globus überrollt worden. Jetzt ist die wohlstandsspendende Großindustrie in einstige Entwicklungsländer abgewandert und das verarmt zurückgebliebene Europa muss zu Dumpingpreisen in Handarbeit das eigene Überleben improvisieren. Alles wie früher, nur seitenverkehrt. Der willkürliche Gedankensprung, ein zwangsläufig immer etwas stotternder Motor von Volker Schmidts Groteske, geleitet Absurdität durch Dialog-Drehtüren. Die betroffenen West-Frauen fragen sich, ob sie ihre verkümmernde Sehnsucht nach Glück aufgeben, modifizieren oder auf der Flucht nach Süden neu suchen sollen. Buchstäblich an der Nahtstelle zwischen Elend und Traum, eingepasst ins System der mit radikal korrigierten Vorzeichen „durchökonomisierten Welt“, entsteht ihr imaginärer Sitzstreik gegen den hemmungslos weiterrasenden Fortschritt. „Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen unserer Gesellschaft und eurer“, rufen die integrierten Migranten aus Old-Europa ins Auditorium und verlassen dafür die schützende Bühne. Dankbar, froh und glücklich könnten sie auch darüber sein, dass dem Regie-Team um Anne Bader knapp eine Woche vor der Premiere statt des knitternden Bandwurm-Titels aus den drei Aufrufen zu „Man muss…“, Ihr könnt…“ Wir sind…“ der vergleichsweise bügelfreie Begriff „Textil-Trilogie“ einfiel.
Ein vollgestopftes Regal mit Kleidungsstücken, bei denen man nicht drauf schwören möchte, ob gleich der Rotkreuz-Container oder Verona Pooth als Label-Repräsentantin zur weiteren Sachbearbeitung um die Ecke biegt, schmückt die Bühne von Luisa Wandschneider. Drei junge Frauen, mit Zopfperücken und Glockenrock schreckensreich uniformiert, präsentieren sich den angereisten Menschenrechtsprüfern einer NGO-Delegation (das sind wir, das Publikum), um ihre Fabrik von Ausbeutungs-Vorwürfen reinzuwaschen. Es geht ja um Arbeitsplätze. Mindestlohn bekommen die „kleinen Rädchen im Getriebe“ zwar nicht, aber man soll da immer beachten, dass sie „eine ganz andere Kultur haben“ und „dankbar“ sind, oder wenigstens sein sollen, für jede Anstellung. Man kennt das alles, nur eben irgendwie andersrum. Und wenn es der Wahrheitsfindung oder dem sozialen Wohlfühlen dient, wird in diesem Rahmen von früheren Nöten mit Hunger und Vergewaltigung erzählt. „Das war mein Leben“, sagt eine der Näherinnen lächelnd, und macht einen Knicks.
Der zweite Teil des Stückes führt auf einen Kleiderberg, aus dem das Frauen-Trio wie aus dem Meer auftaucht. Von der Flucht direkt ins nächste Chaos. Auf dem Schwarzmarkt ist das Leben wieder nichts wert. Aber dann, nach geradezu demonstrativ langer Umbau-Pause der Aufführung, stehen auf der plötzlich keimfreien Bühne drei Peepshow-Kabinen. Die Frauen machen also Karriere, werden „Luxus-Nutte“ oder wahlweise Hausmädchen mit sehr unterschiedlichen Pflichten. Sogar das deutsche Volkslied für Party-Gäste gehört zum Berufsbild, wohlwollend aufgenommen von der jetzt den Ton angebenden Gesellschaft. Hanni (Svetlana Belesova) war schon daheim aufsässig, hatte in der Fabrik zum Streik gerufen und erhebt sich nun wieder aus der Trägheit ihres übersichtlichen Wohlstands, Liesl und Kathi (Lilly Gropper, Ruth Macke) sortieren ihre abgenutzten Souvenir-Träume neu und wagen den Schritt zur Agitation über die Rampe hinaus. Die drei Schauspielerinnen entwickeln allmählich individuelle Charaktere aus der angezapften Sprachwut und lassen sie wieder fallen, wenn im neuesten, dem zornigsten Drittel die Solidaritäts-Worte wie die Fetzen fliegen. Da kann das Spiel mit der Gesinnung kaum mithalten.
„Zwickt der Tanga oder die Seele?“, lässt Volker Schmidt die Peepshow-Frauen im Moment höchster Melancholie erörtern. Vermutlich waren solche Dummy-Dialoge der Anlass, dem Autor eine Nähe zu Brachial-Poet Werner Schwab anzudichten. Es gibt diese Ähnlichkeit nirgends, denn Schmidts Sprache ist fern von artifizieller Kunst ganz auf die Steigerung und dadurch automatische Demaskierung von schiefen Alltags-Phrasen ins Groteske bedacht. Seine Zuspitzungen sind ein einziger „Nun begreift es doch endlich!“-Aufruf. Regisseurin Anne Bader, die an gleicher Stelle mit teils gleichem Ensemble Sibylle Bergs „Und dann kam Mirna“ mit scharfem Witz inszenierte, kann hier nicht auf Esprit setzen, denn die holzschnittige Trilogie klebt fest an der eigenen Schroffheit, die den Humor nur als Kollateralschaden duldet. „Ihr liebt euer Land nicht, sonst würdet ihr nicht davonlaufen“, wird den drei Frauen vom „Dreckhaufen Europa“ in niederschmetternder Pauschal-Logik vorgeworfen. Die Theaterbesucher haben kein Problem damit, die Spiegelung einer Stückescheiber-Utopie für den aktuellen Gebrauch umzudrehen. Bei der Premiere wirkte der lange Beifall auch wie eine Entkrampfungsübung fürs ständige Kopfnicken während der Vorstellung. (Dieter Stoll)
DEMUT VOR DEINEN TATEN BABY
Westfälischer Anzeiger // 28. März 2017
Zwangsbeglückung mit gezückter Waffe
von Susanne Romanowski
Laura Naumanns DEMUT VOR DEINEN TATEN, BABY am Theater Münster ist schnell, idealistisch und radikal pastellfarben. Regie führt Anne Bader.
[…] Eine riesige, flauschige Wolke hängt über den feengleichen Darstellerinnen, gekleidet in rosa, flieder und hellgelben Chiffon. Als noch Blumenkronen aus der Wolke fallen, wird klar: Der Extremismus in Naumanns Stück liegt nicht im Terror, sondern in seiner Femininität. Die steht ihm hervorragend. Verkleidet als Damentrios von Destiny’s Child bis zu den drei Engeln für Charlie drohen Bettie, Lore und Mia Discobesuchern und Supermarktkunden mit dem Tod – um sie dann in die beste Version ihres Lebens zu entlassen.
[…] Gerade in diesen Szenen zeigt sich die tolle Besetzung von ihrer besten Seite. Mühelos wechseln Claudia Hübschmann, Andrea Spicher und Linn Sanders von süßen Kulleraugen zu breitbeinigem, maskulinem Maximierungssprech. Die Darstellung der neoliberalen Schlipsträger macht die Karikatur der niedlichen Utopistinnen perfekt. Es ist die große Stärke dieses Stücks, hochpolitische und moralische Überlegungen in so einen kurzweiligen und brüllend komischen Abend einzuflechten. Scheinbar randläufig fließen Kapitalismus- und Sexismuskritik in reine Spielfreude ein. Beispielsweise, wenn Betties kindliches Staunen Lacher provoziert, bevor auffällt, dass die Frauen ganz selbstveständlich geduzt werden und dass ihnen im Paket gleich ein Plattenvertrag angeboten wird – die hübschen Kostüme verkaufen sich schließlich so gut. Wo die Grenzen verlaufen, ist klar: hier der Idealismus, da der Markt. Hier die Utopie, da das System. Hier die Frauen, da die Männer. Diese Gegenüberstellung könnte man dem Abendvorwerfen, wäre nicht allein die Idee der simulierten Terroranschläge und deren perverse Vermarktung schon so grotesk auf die Spitze getrieben. DEMUT VOR DEINEN TATEN, BABY trifft den Zeitgeist mit Fragen nach Gesellschaft, Geschlecht und Wirtschaft – schwere Kost, die wie auf Wolken daherkommt und leider schon nach einer Stunde weiterzieht.
Westfälische Nachrichten // 29. März 2017
Vom Glück des Schreckens
von Helmut Jasny
In einer riesigen Wolke schweben sie auf die Bühne herab. Und mit den wallenden Kleidern könnte man sie wirklich für Engel halten. Dazu würde auch ihr Auftrag passen: Bettie, Mia und Lore wollen die Menschen glücklich machen, indem sie erst Schrecken verbreiten und dann Erlösung bringen. Ein solches Erlebnis hat sie selber zusammengeschweißt, damals bei der Terrorwarnung auf dem Flughafen, als sie hilflos in der Toilette festsaßen. Das Glück, das sie empfanden, als sich herausstellte, dass in dem herrenlosen Koffer keine Bombe war, wollen sie jetzt in die Welt hinaustragen, indem sie ihrerseits Terroranschläge vortäuschen.
Es ist ein interessantes Gedankenspiel, das Laura Neumann in DEMUT VOR DEINEN TATEN, BABY durchexerziert. Das Theater Münster hat das Stück für Zuschauer ab 14 Jahren auf die Bühne des Kleinen Hauses gebracht. Herausgekommen ist eine spritzige, zupackende Aufführung, die nicht nur ein junges Publikum begeistern dürfte. Denn was hier verhandelt wird, ist nichts weniger als die Frage nach dem richtigen Leben.
Regisseurin Anne Bader hat schon in den PRÄSIDENTINNEN gezeigt, dass sie mit Frauenfiguren umgehen kann. Auch hier überzeugen die Darstellerinnen mit einer Präsenz, der man sich nicht entziehen kann. Wenn Linn Sanders die Western-Frau mimt und von ihrem sprechenden Pferd erzählt, hat das genau den verrückten Charme, den die Rolle verlangt. Andrea Spichers Tanz mit dem Bombengürtel wird zur grotesk-komischen Show, und Claudia Hübschmann beweist mit einer Aufzählung aller nur möglichen Versicherungsarten, dass Wortwitz auch ohne nennenswerte Inhalte möglich ist.
Mit den Versicherungen kommt dann ebenfalls der gesellschaftliche Aspekt ins Spiel. Denn die von den Engeln des Terrors beglückte Menschheit denkt nicht mehr an Vorsorge, Arbeit oder Ausbildung, sondern sucht tatsächlich das Leben im Hier und Jetzt. Politiker und Wirtschaftsbosse verlieren an Einfluss und beschließen ihrerseits einen Anschlag, der jetzt den drei Frauen gilt. Auch das ein interessanter Gedanke in einem Stück, das vor guten und gut umgesetzten Ideen nur so strotzt.
UND DANN KAM MIRNA
Nürnberger Zeitung // 17.10.2016
Kuck mal, wer da schimpft.
von Wolf Ebersberger
Mütter und Töchter – ein Thema, bei dem es gerne sentimental trieft. Nicht so hier. In Sibylle Bergs satirischem Stück „Und dann kam Minna“, das nun in den Kammerspielen des Nürnberger Staatstheaters seine umjubelte Premiere hatte, wird Tacheles geredet. Ein blitzgescheit-böses Vergnügen, auch für männliche Zuschauer.
Schon bis man Mutter wird – ein einziger Kraftakt! Notfalls muss dann der beste Freund ran, auch wenn der eigentlich schwul ist. Man will ja – seufz! – ohnehin raus aus den „heteronormativen Zusammenhängen“. Oder eben künstliche Befruchtung, der Segen des Fortschritts – mit Händchenhalten der weiblichen Konkurrentinnen, aber in doch eher klammer Sitzhaltung und, wie man deutlich sieht, nicht allzu befriedigend.
Ohne Scheu vor sexuellen Posen stürzen sich die vier famosen Schauspielerinnen ins Fortpflanzungsgetümmel und stellen den jeweiligen Akt pantomimisch nach. Wie Stars bei der „Bambi“- Verleihung sind sie in ihren metallisch glitzernden Kleidchen auf die sonst leere Bühne getreten, aber sie wollen keinen Fernseh-Preis. Sie wollen das Leben – und vielleicht fängt es mit einem Kind ja endlich an! Was tut man nicht alles nach 14 Semestern Kunstgeschichte…
Doch Vorsicht – das hier ist ein Stück von Sibylle Berg, und keine andere Autorin (von Elfriede Jelinek abgesehen, die beiden sind eh geistig verwandt, bis hinein in die Denkstrukturen und rhetorischen Mittel) zieht ihre Figuren mit viel Häme und haarsträubendem Sprachfuror hin und her durch den Kakao des ewigen Scheiterns und der Vergeblichkeit.
„Und dann kam Minna“, so der Titel, ist letztlich eine radikale Abrechnung mit der Generation 30plus – oder allen, die vor lauter Glotzen in ihr Smartphone nicht mehr wissen, wie die Welt aussieht, diese aber unbedingt retten wollen. Kampf den Plastiktüten, Friede der Mülltrennung also! Können wir, so fragen sich Bergs angehende Mütter aber auch, mit einem Kind noch unsere über alles geliebten TV-Serien aus Amerika weitersehen?
Und ja, dann kommt Mirna: Was für ein wunderbarer Moment. Die Hamburger Jungregisseurin Anne Bader und ihre Bühnenbildnerin Luisa Wandschneider öffnen eine Tür im Hintergrund und lassen, während die vier Frauen sich vor Wehen krümmen und brüllen, eine riesige rosa Puppe hineinschieben. Nebel und Licht wie im Horrorfilm, dann der siebte Himmel für Mutter Ruth und ihre drei entzückten Freundinnen.
Ist das lieb, so ein kleiner Mensch! Und was er für Geräusche macht, eiderdaus! Dabei hört der Zuschauer schon ganz genau, was der kritische Säugling im Inneren zu sagen hat – und zwar mit der spitzen Stimme eines Oskar Matzerath aus der „Blechtrommel“. Und mit dessen dämonischer Willensstärke. Man ahnt: Das wird noch lustig – und der Mutter das Lachen bald vergehen.
Anne Bader inszeniert zum ersten Mal in Nürnberg, und hoffentlich nicht zum letzten. Aus Sibylle Bergs an sich wenig dramatischem Stück hat sie ein ungemein wendiges, mitunter zum Schreien witziges Rededuell gemacht, bei dem der Clash der Generationen sehr clever (und argumentativ durchaus fair) geführt wird.
Hier die gutmeinende, aber völlig überforderte Mutter – Ensemble-Rückkehrerin Ruth Macke spielt sie voll Würde und trotziger Energie –, dort die mürrisch-renitente Tochter, die ihrer hilflosen Erzeugerin (wie peinlich!) frühreif die Leviten liest. Nicola Lembach, Karen Dahmen und Neuzugang Lilly Grober greifen jeweils zum Mikrofon, um Mirna zu sein – und brillieren im flott-frivolen Rollenwechsel, den die Regie punktgenau choreographiert hat.
Das Timing stimmt, die gnadenlosen Pointen des Textes werden geschliffen weitergereicht, die Musik macht als Motto auf heiter-melancholisch: eine grandiose Teamleistung! Die angedeutete Handlung – Ruth will aufs Land ziehen und mit den Freundinnen eine Kommune gründen, Mirna protestiert – ist dabei nur der winzige Aufhänger für Bergs weltweiten wie weltwunden Rundumschlag gegen alles politisch Korrekte und persönlich Lächerliche. Vier Frauen, die sich die Faustbälle nur so zuspielen – das erinnert manchmal an Peter Handkes legendäre „Publikumsbeschimpfung“. Auch Berg schimpft im Grunde ja von Anfang bis Ende, auch sie indirekt auf uns, das Publikum.
Dass es ihr durchaus ernst ist mit der Zeitkritik und hinter dem Zynismus oft die reine Verzweiflung steckt, gibt ihrer Tirade Tiefe. Auch das kann man in Nürnberg zum Glück spüren – als Mutter, Tochter oder sonstwas.
Die Deutsche Bühne // 15.10.2016
Showtime bei der Frauenpower.
Die Bühne ist leer wie für einen bevorstehenden Schöpfungsakt, aber dann kreisen die Scheinwerfer, der Publikumsjubel wird vom Band zugespielt und vier Frauen – da ist schon auf den ersten Blick der größtmögliche Kontrast zum luftgeblähten Schlabberlook der Berliner Uraufführungs-Produktion fixiert – taumeln in glitzernden Paillettenfummeln hochhackig an die Rampe. Es ist Showtime bei der Frauen-Power, allerdings wird nicht gesungen oder gesprungen, eher nachgetreten. Kann aber auch ganz befreiend sein, wie die eigenwillige Nürnberger Inszenierung von Sibylle Bergs unwiderstehlich giftiger Kolumnen-Dramatik von „Und dann kam Mirna“ zeigt. Unter souveräner Ignorierung des Basis-Experiments „Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen“, wo am Gorki-Theater die Welt der jungen Frauen mit den gehobenen Ansprüchen der Rudel-Emanzipation in Energiestößen von Querschlag-Sarkasmus durchs Scheitern gelotst wurde als wäre es nur ein verpasster Sieg, stürzt sich die junge Regisseurin Anne Bader in Nürnberg direkt auf die Fortsetzung.
Da sind wir nämlich schon weiter. Hier ist die frustrationsanfällige Enddreißigerin im Quartett, wie sie nach dem Kinderkriegen (Alleinerziehend – „Erziehend? Naja, geht so!“) und der Trennung vom Erzeuger-Partner in Spätlese der Freiheit genießt, das zu tun, was sie eigentlich gar nicht will. Oder vielleicht ein bisschen oder das Gegenteil. Beim Wirbel ums aktuell passende Mutter-Bild rufen illusionsfreie Kinder die Gegenreformation aus und wünschen „Spießereltern, die Grün wählen und Alte-Menschen-Sachen machen – meinetwegen auf Facebook“. Mama, der anarchistische Stadtmensch, wollte grade noch aufs Land ziehen, bleibt dank Mirnas Manipulation nun doch in gewohnter Kulisse und könnte alsbald vom nächsten Trend umgedreht werden. Mutterns Wende hat Propellerqualität.
Was Sibylle Berg mit ihren höllisch explosiven Texten wie ein ausuferndes Tisch-Feuerwerk beim Aufräumen nach der Party zündet, wo also Goldregen mit Knallerbsen und Stinkbömbchen zur authentischen Katerstimmung detonieren, lenkt die Nürnberger Inszenierung auf Rollenspiele um. Die Lady- Kracher (durchtrainierte Comedy von Karen Dahmen, Lilly Gropper, Nicola Lembach und Ruth Macke) lassen sich nicht ins Chaos mitreißen, sie demonstrieren die artifizielle Komik der Hilflosigkeit in Profi- Distanz. Augenzwinkern inbegriffen. Die eindeutige Front zwischen den wankenden Frauen und ihren „klare Ansage“ fordernden Mädels aus der Neigungsgruppe „Neue Sachlichkeit“ gibt es in dieser Konstellation gar nicht. Erst quäkt der Nachwuchs mit Mickeymouse-Stimme aus dem Off, dann springen die Schauspielerinnen abwechselnd vom Mutter- zum Tochtertext und zurück.
Vor allem aber schlüpft da ein Riesen-Baby, das in voller Bühnen-Höhe mit viel Augenklappern die Szene beherrscht. Ausstatterin Luisa Wandschneider lässt das niedliche Monster wie einen Sündenfall von Gullivers Riesen-Reise mit viel Dampf und Gegenlicht gebären und im Zentrum der Szene parken. Dort kann es von den verzwergten Müttern nach Bedarf gewindelt, gekleidet und gehätschelt werden, wie es das Gugu-Dada vorschreibt. Ein fabelhaft absurdes Bild. Der Versuch, angemessen gerührt zu sein, stößt dabei zwangsläufig an Grenzen. Die vier Frauen, die alle Gefühls-Standards vom „spitzen Schrei“ bis zum „verschmitzten Lächeln“ in Selfie-Qualität bereit halten, nehmen weitere Wünsche gerne entgegen. Und sei es nur, um sie vorübergehend zu unterlaufen.
Die Nürnberger Inszenierung, die den pointenprickelnden, manchmal aber eben auch verzweifelnd komischen Text strikt wie Brausepulver einsetzt, kann freilich nicht darauf hoffen, dass die Zuschauer wie in einen Spiegel blicken. So gesehen war die Entscheidung, alles nur Show sein zu lassen, nachvollziehbar. Das Ergebnis ist eine schlüssige Alternative zur Uraufführung – wenn auch in einer anderen Liga. Das Premierenpublikum war amüsiert, betroffen sicher nicht. (Dieter Stoll)
ANDERS
Allgemeine Zeitung // Mainz // 4.05.2016
Anders (UA). Die Farbe der Musik.
von Michaela Paefgen-Laß
Erwachen nach dem Koma – Andreas Steinhöfels Jugendbuch „Anders“ als Bühnenstück von Anne Bader
MAINZ. Seitdem diese fürchterliche Sache passiert ist, kann Felix den Geschmack von roter Musik auf seiner Zunge spüren und an der farbigen Aura seiner Mitschüler Krankheiten diagnostizieren. Das macht ihn zum Außenseiter, eben anders. „Anders“ heißt auch der 2015 erschienen Jugendroman von Andreas Steinhöfel. Das Junge Staatstheater Mainz „justmainz“, zeigt die mit surrealen Episoden durchwobene Geschichte als Uraufführung in einer gut einstündigen Bühnenfassung von Regisseurin Anne Bader. Ihr gelingt es so sachlich wie unsentimental, das Erwachsenwerden vorzustellen als einen Akt schmerzhafter Häutungen und notwendiger Entfremdungen – auch von sich selbst. Eine tröstende Klarstellung für die jungen Menschen im Zuschauerraum und ein leiser Tritt ans Schienbein ihrer erwachsenen Begleiter und Behüter.
Zehn Monate Koma haben Felix (Lilith Häßle) komisch gemacht, zu einem Freak ohne Erinnerungen. Aber auch zu einem, der sich traut, den Mund aufzumachen, Stellung zu beziehen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Das Rundum-Sorglos-Paket, das seine Eltern elf Jahre lang um den Jungen geschürt hatten, haben sie aus Versehen in einer Verkettung unglücklicher Umstände selbst zerstört. Jetzt müssen sie damit zurecht kommen, dass ihr zum zweiten Mal nach 263 Tagen geborenes Kind ein unbekanntes Wesen ist. Felix ist als einziger ehrlich genug, sich den Umständen mit neuem Namen zu stellen. Jede Geschichte hat ihre Seiten und Perspektiven. Elf Protagonisten, gespielt von fünf Darstellern, geben ihre Sicht auf die Dinge in Spiel- und Erzählsträngen zum Besten: Die Eltern (Andrea Querbach und Mathias Renneisen), die Lehrerin (Katharina Alf), die Freunde, der Nachhilfelehrer (Rüdiger Hauffe), die alte Frau und das Huhn Romy. Letzteres taucht knabbernd und gurrend immer im richtigen Moment auf, um der Geschichte die Schwere zu nehmen. Ein pfiffiger Regieeinfall, von Katharina Alf entzückend gespielt. Lilith Häßle zeichnet als Anders der unerschrocken wissbegierige Blick aus, mit dem er seine Umwelt analysiert. Die Bühne in U17 dominiert sinnbildlich dazu ein anfangs im Bühnennebel bedrohlich thronender schwarzer Quader (Bühne Fabian Wendling). Zunehmend zerfällt er in seine Einzelteile. Bildet immer neue Räume, in denen die Erinnerung sich verfängt. Die Puzzlestücke lassen sich von allen Seiten erklimmen und betrachten, geben den Einsichten eine neue Kontur. „Anders“ ist aber auch eine spannend aufgebaute Detektivgeschichte. Denn wer erwachsen wird, hat ein Recht darauf, den Dingen nachzugehen. Ein Ponyhof ist das für niemanden – Punkt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung // 3.05.2016
Abschied vom Kindsein.
Uraufführung von Steinhöfels „Anders“ in Mainz
Mit „Rico und Oskar“ ist Andreas Steinhöfel endgültig berühmt geworden. Doch er gehört zu jenen Autoren, die sich selbst und das Schreiben immer wieder neu auf die Probe stellen. Mit „Anders“ hat er vor anderthalb Jahren den Rahmen des Erzählens im Kinder- und Erwachsenenbuch noch einmal erweitert: Der Roman kann tatsächlich alle Leser im Alter von etwa 12 Jahren an faszinieren. Felix Winter, das geradezu erstickend behütete Kind, wird an seinem elften Geburtstag durch zwei unglückliche Zufälle Opfer seiner Eltern Melanie und André. Erst fällt eine leuchtende Eins auf ihn, die sein Vater zusammen mit einer anderen auf dem Dach zu einer großen Elf hatte montieren wollen. Als der schwer Getroffene durch die Einfahrt des gepflegten Familienanwesens taumelt, fährt die Mutter ihn auch noch mit dem schicken Auto an. Die Folge: Koma und Amnesie. Danach ist Felix anders, und so nennt er sich auch: Anders. Er kann das Kranke und die Trauer der Menschen spüren, anhand der farbigen Auren, die sie in seinen Augen umgeben, und er sagt ihnen ihre Gebrechen direkt ins Gesicht. Damit wird er endgültig zum Außenseiter. Außerdem muss er vor seinem Unfall etwas angestellt haben, das ihn zu erdrücken droht. „Anders“ ist ein Buch über Lebensentscheidungen und darüber, dass man ein Kind freilassen muss, um ihm verbunden zu bleiben. Über Schuld und darüber, dass der Tag kommt, an dem man mit ihr Leben muss. An diesem Tag beginnt der Abschied vom Kindsein, auch für Anders, der früher Felix hieß. Meisterhaft verschränkt Steinhöfel in „Anders“ verschiedene Erzählebenen und Erzählweisen, lässt das Märchenhafte in den Realismus dringen.
Wie das auf die Bühne bringen? Offenbar war die Regisseurin Anne Bader von „Anders“ ebenso begeistert wie viele Leser. Im U17 des Staatstheaters Mainz hat sie jetzt, als Uraufführung, eine von ihr selbst geschriebene Bühnenfassung inszeniert – und Steinhöfel, der trotz Kinopremierenstress gekommen war, sah durchaus angetan aus beim Schlussapplaus. Als Theatermacherin hat Bader das ohnehin dichte Buch noch weiter verdichtet und dafür visuelle und akustische Elemente (Matthias Schubert, Jürgen Sippert) genutzt. Die Poesie der Prosa scheint weiter durch, wechseln sich doch die Darsteller, die zwei oder drei Charaktere übernehmen, auch als Erzähler ab. „Anders“ ist auch ein Buch darüber, wie Erwachsene verkümmern können, auf unterschiedliche Weise. Die Farben und die leere Blässe zumal der erwachsenen Figuren haben Bader, ihre Kostümbildnerin Luisa Wandschneider und der Bühnenbildner Fabian Wendling in die hellen wildgelockten Haare, die weißgeschminkten und mit Neonfarben betonten Gesichter ihrer Darsteller gelegt. Erst am Ende kommen die wahren Gesichter zum Vorschein, der Lack ist ab, die Lüge auch. Die Doppelbesetzungen sind wie zwei Seiten einer Medaille. Als neugierige Nachbarin hat Andrea Quirbach die komischen Momente, die Felix’ biestige Mutter so gar nicht hat, als alter Stack ist Rüdiger Hauffe das Gegenteil vom fiesen Nisse, und Mathias Renneisen ist als Ben wie als Vater zwar von den Ereignissen gebeutelt, hat aber das Herz auf dem rechten Fleck. Katharina Alf ist als Romy sicherlich das beste Huhn, dass auf einer Theaterbühne zu sehen sein könnte, was der Schwere der Geschichte weitere Leichtigkeit verleiht. Bader versucht, alle Stränge des Romans aufzunehmen und doch den Schwerpunkt mehr auf die Kriminalgeschichte als auf die Merkwürdigkeiten zu legen, die Anders geradezu anzuziehen scheint. Das Nixenloch etwa, jener düstere Strudel, in dem das Kind sich umbringen will, wird bei ihr zur efeuumrankten Duschkabine. Mit Lilith Häßle ist dieser Junge, der mit sich ringt und am Ende doch den richtigen Weg findet, so nah, wie ein Anders gerade dem jungen Publikum kommen kann. Als Stück funktioniert „Anders“ also durchaus – macht aber noch viel größere Lust darauf, das Buch (wieder) zu lesen. (Eva-Maria Magel)
DIE PRÄSIDENTINNEN
Westfälische Nachrichten // 7.03.2016
Eine träumt vom Glasmusikanten
von Helmut Jasny
Werner Schwabs derbes Drama „Die Präsidentinnen“ im U2 macht sehr viel Spaß
Münster – Als „Fäkaliendrama“ bezeichnete Werner Schwab seine „Präsidentinnen“, die am Samstag im U2 des Theaters Münster Premiere feierten. Das 1990 in Wien uraufgeführte Stück machte den aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Autor quasi über Nacht berühmt. Und berüchtigt. Denn es wühlt sich ebenso tief wie lustvoll hinein in die Niederungen der Gesellschaft. Radikale Exzesse kultivierte Schwab aber nicht nur auf dem Theater, sondern auch im Leben, das dann entsprechend kurz ausfiel. Am Neujahrsmorgen 1994 fand man den 35-Jährigen zu Tode betrunken in seiner Wohnung.
Anne Bader inszeniert auf einer fast leeren, in tristem Grau gehaltenen Bühne (Melanie Walter). Vor dem neu angeschafften Fernseher, der die Papstmesse überträgt, sitzen die »Präsidentinnen« zusammen und träumen sich aus ihrem kümmerlichen Dasein heraus. Die karge Pensionistin Erna (Regine Andratschke), einmal geschieden, einmal verwitwet, ist fest davon überzeugt, dass »das Geschlechtliche« das Menschliche aus der Liebe treibt. Aus diesem Grund fantasiert sie sich ein katholisch korrektes Verlöbnis mit einem bigotten Metzgermeister zusammen.
Als Gegenpart fungiert die ebenso aufgetakelte wie notgeile Grete (Claudia Hübschmann). Nachdem ihr Mann mit einer Jüngeren durchgebrannt ist, konzentrieren sich ihre Visionen auf das stramme Hosentürl eines Blasmusikanten. Dritte im Bund ist das mehr als einfach gestrickte Mariedl (Natalja Joselewitsch). Sie ist mächtig stolz, dass sie »es ohne macht«. Ohne Gummihandschuhe nämlich, wenn sie als Toilettenfrau die verstopften Klos ausräumt. Den träumerischen Blick bekommt sie, wenn sie im Fernsehen den Papst sieht oder im Bierzelt den Herrn Pfarrer.
Es ist eine giftige Melange aus Bigotterie, Brunft und Kloake, die hier zusammengerührt wird. Trotzdem macht das Ganze unverschämten Spaß. Das liegt zum einen an Schwabs volkstümlich gefärbter Kunstsprache, die Sachverhalte gleichzeitig verbrämt und entlarvt, und zum anderen an der Regie von Anne Bader, bei der trotz aller Komik der Ernst nicht zu kurz kommt. Und vor allem natürlich am hervorragenden Spiel der drei Darstellerinnen. Andratschke, Hübschmann und Joselewitsch meistern sowohl die leisen als auch die schrillen Töne und erzeugen über die ganzen 75 Minuten hinweg einen grandiosen Sound.
APATHISCH FÜR ANFÄNGER
Die Deutsche Bühne // 04.2016
RADIKAL SYSTEM KONFORM Schwerpunkt: Junge Schauspielregie
Was wollen Die? Unsere Autoren Jens Fischer und Anne Fritsch im Dialog über 15 Inszenierungen junger Regisseure
[…] Oder „Apathisch für Anfänger“: Um nichts anderes als die Suche nach der Wahrheit geht es. Anne Bader hetzt am Jungen Schauspielhaus in Hamburg dank geschickter dramaturgischer Schnitte und Überblendungen die sich widersprechenden Aussagen über Geflüchtete aufeinander. Das Hin und Her, ständiges Denken und Umdenken erzeugt ein beklemmendes Gefühl, weil dabei die Kritierien bewusst und damit ausgehebelt werden, nach denen wir sonst handlungsorientiert schnell in richtig und falsch sortieren. Das Prinzip Vorurteil wird erfahrbar. […]
Hamburger Abendblatt // 26.01.2016
Rätsel um die Flüchtlingskinder.Anne Bader inszeniert mit „Apathisch für Anfänger“ ein nachdenkliches Stück zum Thema Flucht
von Annette Stiekele
HAMBURG. Was ist bloß in Schweden los? Da gibt es Flüchtlingskinder, die aufhören zu essen und zu trinken und apathisch vor sich hinvegetieren. Manipulation der Eltern? Drogen? Trauma? Traumatisierte Eltern? Keine Erfindung. Mitte der Nullerjahre war das Realität in Schweden.
Jonas Hassen Khemiri, Autor mit schwedisch-tunesischen Wurzeln, hat eine subtile theatrale Annäherung an die Ereignisse verfasst: „Apathisch für Anfänger“ für Jugendliche ab 15 Jahren. Dass die Programmmacher es in Zeiten, in denen in Europa über Obergrenzen von Flüchtlingen diskutiert wird, auf den Spielplan des Jungen Schauspielhauses setzen, passt. Anne Bader hat das Stück als eine kühl-karge, gleichwohl spielfreudige und zum Teil sogar humorvolle Wahrheitssuche inszeniert. Hermann Book sitzt darin als Ermittler erst mal in der Sommerfrische. Sie wäre ungetrübt, wenn da nicht diese Stimme (Sophia Vogel) in seinem Ohr wäre, die ihm vorwirft, in seinem unabgeschlossenen Untersuchungsbericht nie Position bezogen zu haben. Und so begibt er sich vier Jahre später auf erneute Wahrheitssuche. „Die haben doch gefaked“, erzählt dem Ermittler eine aufgedrehte Schülerin. „Die Kinder.“ „Und die Eltern.“ „Sie wurden ja entlarvt“. Woher die Schüler das wissen, wissen sie selbst nicht so genau. „Alle wissen das.“ Angeblich. Überdrehte, dennoch geistreiche Spielszenen schildern Einzelschicksale, etwa von dem jungen Mädchen, das in die Klasse kam und auf einmal per Krankenwagen abgeholt wurde. Vor allem Florence Adjidome und Philipp Kronenberg werfen sich akkurat bei hohem Tempo die Spielbälle zu. Es ist ein forderndes Stück. Die Wahrheitssuche wächst sich zu einer wüsten Orgie der Argumente aus. Alle geben ihren Senf dazu, da gibt es die böse Beamtin (Christine Ochsenhofer) den Psychologen (Florens Schmidt) die Lehrer, die Mitschüler, die Medien. Waren am Ende die Beamten Schuld? Das Ensemble ringt dem Stoff ein paar bittere schwarzhumorige Momente ab, wenn die gute Beamtin (Ochsenhofer) auf den angeblich schwer verliebten Asylanten Samu (Kronenberg) trifft. Der Zuschauer bleibt am Ende allein zurück mit Behauptungen, Mutmaßungen, Verdächtigungen und mit diesen bis heute ungelösten Schicksalen. Das Phänomen ist nur in Schweden aufgetreten, möglicherweise wurde es in anderen Ländern einfach übersehen. Die Wahrheit, sie ist nicht zu rekonstruieren. Aber womöglich zählt am Ende, was der Psychologe sagt. „Die Frage ist doch eher, was das Gesehene über uns aussagt. Wer wir sind. Oder sein wollen. Oder nicht sein wollen.“ Ein sehr nachdenklich stimmendes Stück ohne richtiges Ende.
KRIEG. STELL DIR VOR, ER WÄRE HIER
Hamburger Abendblatt // 24.09.2013
Gedankenexperiment zum Thema KRIEG am Jungen Schauspielhaus
von Annette Stiekele
HAMBURG. Dort, wo bis vor ein paar Minuten die Bühne war, liegt jetzt ein orangefarbener Tretroller für Kinder. Es sieht aus, als sei er eilig hingeworfen und vergessen worden. Doch er ist bedeckt mit schwarzen Ascheflocken. Der Roller liegt wie ein mahnendes Symbol auf dem Boden. Er steht für alles, was in „Krieg. Stell dir vor er wäre hier“ von der dänischen Schriftstellerin Janne Teller gezeigt werden soll.
Gerade war noch alles in Ordnung. Der 23-jährige Björn Boresch und der 25-jährige Benjamin Nowitzky tanzen zu lauter Clubmusik. Von einem auf den anderen Moment stolpern die Schauspieler über ihre eigenen ausgelassenen Bewegungen. Was passiert ist? Deutschland ist aus der Europäischen Union ausgetreten, weil es nicht ewig für die Staatsschulden anderer Staaten aufkommen wollte. Danach eskalierte die Situation: Schluss mit Frieden.
Die zwei Jungen sprechen ihre Sitznachbarn direkt an, dann auch alle anderen. Stell dir vor es wäre Krieg. Sie fragen: „Wenn bei uns Krieg wäre, wohin würdest du gehen? Was würdest du tun, wenn das Haus, in dem du und deine Familie wohnt, Löcher hätte.“ Für die Inszenierung räumt das Junge Schauspielhaus seine Garage aus. Das Tor wird zugezogen. Gerade 40 Zuschauer finden Platz. Zuerst auf Stühlen, doch die nehmen die Schauspieler jedem in der zweiten Hälfte weg.
Die Jungen konfrontieren das Publikum. „Du hast Angst, morgens, mittags, abends. Wenn es irgendwo kracht, zuckst du zusammen.“ Nationalität ist auf einmal eine Frage von Freund oder Feind. Was dann passiert, sollte einem bekannt vorkommen. Die Familie zieht in ein Flüchtlingslager in Ägypten. Es ist die Situation, die auch Flüchtlinge in deutschen Camps durchmachen. Gedanken, die jene quälen, die aus Kriegsgebieten fliehen mussten. Die ihre Heimat zurückließen.
Die Inszenierung von Anne Bader ist ein Gedankenexperiment. Verweigert man sich dem, funktioniert es nicht. Aber denkt man bei den beschriebenen Szenarien wirklich an die eigene Mutter, die mit einer Lungenentzündung im Keller liegt, keinen weiteren Winter überleben wird, an die eigenen Freunde, die man verloren hat – dann ist es nicht nur eine bedrückende Vorstellung. Diese eine Stunde stellt auch die Position jedes Zuschauers jenen Menschen gegenüber infrage, die in Deutschland Schutz suchen.
WIR OHNE UNS
Hamburger Abendblatt // 02.04.2012
Berührend: Nino Haratischwilis neues Stück „Wir ohne Uns“ (UA)
HAMBURG. Worin die große Traurigkeit besteht, die Nino Haratischwilis neues Stück „Wir ohne uns“ durchzieht, soll nicht verraten werden. Dafür ist die Auflösung zu einschneidend. Aufgelöst sitzen sich die Zuschauer nach der Uraufführung am Sonnabend in der Hamburger Botschaft in zwei Blöcken um die Bühne gegenüber. Tränen, die sich in Tränen spiegeln.
„Bist du da?“, fragt Bo sehnsüchtig, sobald er eingeloggt ist. In dem Drama, das die Hamburger Autorin im Auftrag des Jungen Schauspielhauses geschrieben hat, erschaffen Bo und Amina aus ihren Jugendzimmern heraus im Chat eine gemeinsame Welt, in der ihr digitales Ich Projektion der eigenen Wünsche wird – sie erleben (gem)einsam eine ausgedachte Geschichte, bis die Grenzen zur Realität zerfließen.
Dieses vielschichtige Spiel der Ebenen inszeniert die junge Regisseurin Anne Bader gekonnt: Ein illuminierter Kubus repräsentiert die Chatwelt – wenn die Darsteller ihn betreten, loggen sie sich ein, ansonsten sind sie allein, sehen sich nicht an, jeder für sich in der deprimierenden Blase der Einsamkeit. Jonathan Müller und Sandra Maria Schöner überzeugen in der Darstellung zweier wandelbarer Menschen, die nur Platzhalter für die Worte sind, die sie im Netz von sich geben. (ditt)